SaschaSalamander

Ausgewählter Beitrag

Virtuosity

martinez_virtuosity_1.jpgINHALT

Carmen ist eine talentierte Violinistin. Und vom Schicksal gesegnet, denn sie hat eine Mutter, die zugleich ihre Managerin ist und sie fördert. Außerdem hat sie reiche Großeltern, die ihr eine Stradivari kauften und stolz auf die Karriere sind. Doch die Fürsorge der Mutter und der Stolz der Großeltern sind ein goldener Käfig, Carmen selbst ist nur eine Marionette zur Erfüllung der Träume anderer. Statt ein normales Teenagerleben zu führen, muss sie von einem Konzert zum nächsten, muss Preise gewinnen und mit strahlendem Lächeln in die Kamera blicken. Ein Freund? Eine normale Schule? Nein, aber dafür Welterfolg. Ein Erfolg, an dem sie zu zerbrechen droht. Bis sie eines Tages Jeremy kennenlernt, ihren härtesten Konkurrenten für den wichtigsten Preis ihrer Laufbahn. Er stellt ihr Leben auf dem Kopf, und sie versucht ihrem Käfig zu entfliehen.


THEMA, GENRE

Das Cover und der Trailer des >Lübbe Verlages< lassen auf eine Teenie-Romanze schließen, wie man sie derzeit an jeder Ecke nachgeworfen bekommt. Dass ich >VIRTUOSITY< dennoch lesen wollte, lag vor allem am Thema: klassische Musik, Konzerte, Geigenspiel. Ich liebe klassische Musik, und als Jugendliche habe ich selbst in einem Jugendsymphonieorchester gespielt, intensiv Unterricht erhalten und im Freundeskreis erlebt, wie eine Musikerkarriere aufgebaut wird (ein Teil meiner damaligen Mitschüler ist heute weltweit bekannt und gefeiert, das ist schon ein seltsames Gefühl). Daher war ich sehr gespannt, wie die Autorin dieses für mich persönlich spannende Thema umsetzen würde. Ich freue mich, dass ich über >BloggDeinBuch< ein Exemplar lesen durfte.

VIRTUOSITY beweist, dass auch ohne Fantasy und magische Wesen ein spannender Jugendroman möglich ist. Die Welt der klassischen Musik, sowohl in ihrer Leidenschaft und Eleganz wie auch in ihrer Verlogenheit und Bestechlichkeit ist sehr schön dargestellt. Wenn Carmen ihre Geige ansetzt und spielt, fühlte ich mich oft an damals erinnert, wenn ich im Konzertsaal saß, die Atmosphäre wurde hervorragend eingefangen. Und auch die Feinheiten der Profimusiker wurden gut beschrieben: immer die Hände schonen, nicht mit den Fingerknöcheln an Türen anklopfen, Körperteile versichern, keine Ringe tragen, der stete rote Abdruck im Gesicht und viele Kleinigkeiten mehr, die nebenbei einfließen aber der gesamten Geschichte sehr viel Echtheit verleihen.

Obwohl das Buch als Romanze vermarktet wird, halte ich es eher für eine Mischung aus Drama und Erwachsenwerden. Der Prozess von Carmens Ablösung ist sehr gut herausgearbeitet und stellt das dominierende Thema des Buches dar. Ihr Gefangensein, ihre Zweifel, die folgende Rebellion und die Befreiung. Zwar ausgelöst durch eine Liebe, diese aber nicht der Knackpunkt sondern das Mittel zum Zweck. Trotzdem - auch der romantische Anteil ist gekonnt dargestellt und lässt das Leserherz höher schlagen. Es ist der Autorin gelungen, verschiedene Anteile geschickt zu verweben, ohne es zu kitischig oder zu dramatisch werden zu lassen.


CHARAKTERE

Carmen ist äußerst gelungen gezeichnet. Das Buch ist in der Ich-Perspektive geschrieben und gewährt dem Leser einen ungeschönten Einblick in ihre Welt. Sie fügt sich in die Welt, die ihre Mutter und Großeltern ihr vorgeben, sie kennt es nicht anders, und sie verzichtet dafür auf ein eigenes Leben. Schrittweise wird beschrieben, wie der Erfolg immer mehr zur Belastung wird, bis sie eines Tages nicht mehr ohne Medikamente auf die Bühne treten kann und schrittweise in die Abhängigkeit rutscht. Immer wieder lässt sie den Leser auf die unschönen Dinge ihres Erfolges blicken: der aggressive Lehrer, die viel zu kurze Leine ihrer Mutter, der stete Druck von Presse, Familie und aus sich selbst heraus. Dem gegenüber steht das verletzliche Mädchen, das sich verzweifelt danach sehnt, um seiner selbst willen geliebt zu werden. Als sie rebelliert, steigert sie sich in einen wahren "Rebellionsrausch" hinein, der alles zerstören könnte.

Jeremy ist das genaue Gegenteil von Carmen: er ist frei, lebendig, hat eine liebende Familie, er ist sozial kompetent und hat ein offenes Herz für die Dinge um ihn herum. Seine Vitalität ist ein markanter Kontrast, doch auch sein Leben hat dunkle Momente. Und stets schwebt die erdrückende Frage im Raum: will er Carmen manipulieren, um selbst den Preis zu gewinnen? Oder ist tatsächlich er der eine, der sie um ihrer selbst willen liebt?

Außer den beiden gibt es nur vier weitere Charaktere: Diana, die Mutter, die durch die Nähe zur Protagonistin sehr häufig anzutreffen und sehr gut beschrieben ist. Clark, Carmens Stiefvater, ein Lichtblick zwischen all dem Erfolg und der künstlichen Fassade. Heidi, die junge Privatlehrerin, die das Mädchen in ihrer Rebellion unterstützt und dafür viel aufs Spiel setzt. Und der Lehrer Juri, zweimal die Woche terrorisiert er Carmen und formt ihre Musik. Jede dieser Figuren ist sehr emotionsbeladen und für den Leser direkt greifbar.


WIDERSPRÜCHE

VIRTUOSITY ist ein Buch voller Widersprüche. Einerseits ist das die offizielle Welt der Musik: teure Preise, wertvolle Instrumente, perfekt gestylte Kleidung, eine elegante Performance, Äußerlichkeiten und Oberflächlichkeiten. Auf der anderen Seite sind da Heidi und Jeremy, die immer wieder Einblicke in die "andere" Welt normaler Jugendlicher bieten. Als Carmen auf Jeremy trifft, blitzt immer mehr dieser für sie neuen Welt hervor.

Für die Musik empfindet Carmen eine Hassliebe. Sie spielt verträumt die Melodien, genießt ihre regemlässigen Rituale, sie liebt das atmende und singende Instrument und schwärmt von Musik wie andere von ihrem Geliebten. Doch zugleich ist ihr die Musik verhasst, sie ist der Käfig, der sie gefangenhältt, es ekelt sie an, es ist grässlich, widerlich, sie fühlt sich beschmutzt und möchte - wie bereits im ersten Kapitel ersichtlich - am liebsten ihre 1,2 Mio teure Stradivari vom Balkon fallen lassen.

Carmen weiß auch nicht, was sie möchte, sie muss sich ihrer selbst erst bewusst werden. Sie will geliebt werden, wie sie ist. Als das junge Mädchen, als Person, als Mensch. Und doch will sie, dass die Konzertbesucher zu ihr aufsehen, sie wegen ihrer Musik lieben und sie verehren.

Der größte Widerspruch in diesem Buch ist Jeremy. Sie liebt ihn, denn er ist, was sie gerne wäre. Er findet sie hübsch, er besucht nichtmusikalische Veranstaltungen mit ihr, er küsst sie, mit ihm kann sie auch über andere Dinge reden als über Musik. Zugleich aber darf und wil sie ihn nicht lieben, da er ihr Gegner ist. Sicher lenkt er sie nur vom Wettbewerb ab und verfolgt seine eigenen Ziele, sicher will auch er sie nur manipulieren. Sein Verhalten verärgert Carmen. Sie stößt ihn ab und zieht ihn an sich, sie verachtet ihn und verehrt ihn, er ist ihr Retter und ihr Untergang.

Dies sind die meiner Ansicht nach vier wichtigsten Elemente, doch es gibt noch sehr viele weitere. Etwa die Medikamente, die sie zu brauchen glaubt und die sie im Zuge ihrer Rebellion absetzt. Die Figuren ihrer Mutter und des Lehrers, denen sie zwiespältig gegenübersteht. Auch sich selbst gegenüber ist Carmen immer wieder im Zweifel. VIRTUOSITY beschreibt überdeutlich den Prozess der Selbstfindung und Befreiung auf so packende Weise, dass der Leser immer wieder das Gefühl hat, er selbst müsse nun erbrechen, schreien, weinen.


COVER, PASSION

Ausnahmsweise möchte ich einige Worte über die Aufmachung des Buches verlieren: teilweise verdeckte Mädchengesichter sieht man derzeit überall, dadurch hebt sich das Cover leider wenig aus der Masse ab. Doch das verdeckende Element, die Geige, ist sehr schön in den Vordergrund gehoben, sodass der Mensch hinter der Musik verborgen ist, wie auch Carmen hinter ihrer Karriere. Die beherrschende Farbe ist ein dunkles Lila, die Farbe der Passion. Und diese Passion, Leidenschaft ist es, um die es im Buch geht. Gemäß Wikipedia eine starke, inbrünstige Emotion von Liebe und Hass, sie dient der Verfolgung von Zielen, es schwingt ein Beiklang von Zerstörung mit. Besser als mit dem Wort Passion kann man VIRTUOSITY nicht beschreiben.


FAZIT

Die Autorin hat ausder Musik ein mitreißendes Jugenddrama voller Zärtlichkeit und Passion zu erschaffen. Fernab vom Kitsch erlebt der Leser gemeinsam mit Carmen eine Achterbahn der Gefühle, deren Intensität noch lange nachklingt.

SaschaSalamander 25.02.2012, 09.01

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