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Ausgewählter Beitrag
Ghost Tower
1952 wurde eine Frau auf brutale Weise von ihrer Adoptivtochter an der großen Turmuhr getötet. Die Handlung spielt zwei Jahr später: der geheimnisvolle Tetsuo kommt auf den arbeitslosen Amano zu und "bittet" ihn, mit / für ihn zu arbeiten. Denn der Turm verbirgt ein wertvolles Geheimnis, und alleine kann Tetsuo es nicht schaffen. Aber welches Geheimnis birgt Tetsuo selbst? Und was ist dran an den Gerüchten, dass ein mordender Geist auf dem Turm umgeht?
VORAB
Eigentlich lese ich stets alle Vorschauhefte, aber GHOST TOWER von Taro Nogizaka ist mir entgangen. Wohl, weil die ersten Seiten (idR auch zugleich die Leseprobe) mich weder von den Zeichnungen noch vom Inhalt angesprochen haben. Typischer Loser, typischer realistischer Zeichenstil. Und Mysterythemen gibt es in Mangas zuhauf, da kann man nicht jeden kaufen, ich selektiere schon sehr genau. In einem Forum erfuhr ich dann aber etwas mehr und wusste, dass ich den Manga unbedingt lesen muss. Im Grunde eine Info, die bei der Beschreibung nicht explizit erwähnt wird, die man aber bereits recht früh zu Beginn des ersten Bandes erhält. Manche Leser waren darüber sehr erstaunt, daher möchte ich nicht spoilern. Aber für wen das okay ist, schreibe ich nach dem Beitrag noch ein paar Zeilen dazu (natürlich gekennzeichnet als Spoiler) ;-)
Und, ich muss zugeben: was mich AUCH abhielt war der Verlag. Carlsen hat ein an sich tolles Programm, aber ich gehöre inhaltlich einfach nicht zu deren Zielgruppe normalerweise. Ich finde, GHOST TOWER sticht durch seine erwachsene Art und die tiefgründige Erzählweise sehr aus den anderen Veröffentlichungen heraus. Daher freue ich mich, dass ich nun nachträglich noch auf diese Perle aufmerksam wurde.
Bei nicht abgeschlossenen Serien bin ich oft skeptisch, aber GHOST TOWER ist in 9 Bänden abgeschlossen, das ist schon mal ein weiterer Anreiz. Also ab ins Regal damit ...
STORY / AUFBAU
Die Geschichte ist von Beginn an recht rätselhaft und gibt viel Anlass für Spekulationen. Die Art der Rätsel, Mysterien und Geheimnisse ist dabei sehr unterschiedlich. Da gibt es den Gruselanteil mit einer Spukgeschichte und einer seltsamen Gestalt, aufgrund der Zeichnungen und aufgebauten Spannung würde ich sogar ansatzweise sagen "Horroranteil". Da wäre auch noch die Person des Tetsuo an sich, es wird sehr viel offen gelassen und hoffentlich in den abschließenden Bänden geklärt. Auch scheint eine der später auftretenden Personen mehr zu wissen und in das Geschehen rund um den Turm verstrickt zu sein. Also Mystery, Grusel / Horror, Verschwörung, Crime, und alles vor der Kulisse von 1954 ...
Zu Beginn wird erst einmal Amano vorgestellt, bis Tetsuo in sein Leben betritt, Szenenwechsel, neues Setting, man erfährt erste Hintergründe. Die beiden arbeiten zusammen, weitere Charaktere treten auf den Plan, und von Seite zu Seite steigt die Spannung, statt Antworten gibt es zumindest im ersten Band vorerst weitere Fragen, weitere Geheimnisse. Garniert mit einem Mord und ein paar schauerlichen Ereignissen.
ERZÄHLTEMPO / ATMOSPHÄRE
Es passiert unglaublich viel im ersten Band, sehr viele Handlungsfäden werden miteinander verwoben. Und es gibt ... mmh, "Action" möchte ich das nicht nennen, aber ich habe keinen besseren Begriff für diese Art der handlungsintensiven Momente. Trotz allem ist der Grundton leise, es wirkt langsam und fließend. Obwohl ich zu den sehr schnellen Mangalesern gehöre, konnte ich diesen hier nicht wie sonst oft üblich überfliegen. Sondern die Botschaft liegt zwischen den Zeilen. Wenn man in die Tiefe gehen möchte, muss man dies anhand der Bilder erfassen.
Während andere Mangas die Gedanken einzelner Protagonisten oft in den Panels schreiben, geschieht dies hier nicht. Es ist nicht aus Sicht einer einzelnen Person geschrieben sondern aus Sicht eines reinen Beobachters von außen. Der Leser muss die Gedanken der Personen erahnen, er muss genau hinsehen, muss auf die Hände, Füße, Blicke, Kopfhaltungen achten und diese interpretieren. Dem Mangaka ist bewusst, dass der Leser damit auch falsch liegen kann, dadurch bleibt es rätselhaft und uneindeutig.
Ich mag diesen ruhigen Ton. Während des Lesens sehe ich oft einen Film vor meinem Auge ablaufen. Und auch, wenn die Stilmittel andere sind und auch, wenn es in einer anderen Zeit spielt, fühle ich mich atmosphärisch oft an die viktorianische Zeit erinnert, aber auch einige Noir-Elemente blitzen zwischendurch auf. Der Uhrenturm, das Auftreten der Charaktere, Schattenwürfe, die Art des Grusels, die Art des Crime. Sehr angenehm! Und da Steampunk das Zahnrad nicht für sich gepachtet hat, gibt es hier immer wieder Zahnräder, manchmal einfach nur als Deko im Hintergrund oder bei den Kapitelbildern, was ebenfalls für stimmungsvolle Effekte sorgt.
Viele Handlungsfäden, viele Charaktere, dichte Handlung und sehr viel Input - trotzdem ermöglicht der eher ruhige Tonfall es dem Leser, stets den Überblick zu behalten und der Handlung zu folgen.
EROTIK
Erotik ist kein Thema des Mangas. Aber es gibt einige sehr schönen Zeichnungen und expliziten Details. Es sind einzelne Gesten (Handschuhe abstreifen, eine Berührung, ein Blick, eine lässige Bewegung) oder kleine Elemente der Zeichnung (Rundungen, eine Haarsträhne). Diese berühren den Leser auf sehr intime Weise, lassen den Manga lebendig werden und sorgen gelegentlich für ein angenehmes Kribbeln auf unterschwellige Art.
Ich habe bisher nur den ersten Band gelesen. Aber ich kann mir durchaus vorstellen, dass es später hier und da noch etwas mehr für den Leser geben wird. Nicht voyeuristisch, sondern stilvoll und ansprechend. In neun Bänden kann noch einiges geschehen. Zumal ich schon einige Bilder vorab gesehen habe, die sehr vielversprechend sind. Abwarten ...
CHARAS
Die Charaktere sind neben der dichten Atmosphäre und ungewöhnlichen Handlung eine große Stärke des Mangas. Über Tetsuo erfährt man nichts Konkretes, aber man erhält sehr viele Andeutungen. Was treibt ihn an? Warum trägt er einen falschen Namen? Wer ist sein Sponsor? Woher stammt sein Wissen? Wie wurde er gerade auf Amano aufmerksam, und warum hat er (Spoiler) getan, um ihn zur Mitarbeit zu bewegen? Er wirkt sehr charakterstark und charismatisch - doch was steckt wirklich dahinter?
Amano dagegen wirkt weichlich, manipulativ. Er ist der typische Loser, wie man ihm in zig Animes und Mangas immer wieder begegnet. Arbeitslos, kein Geld, kann nicht einmal die Miete zahlen, verstrickt sich in Lügengeschichten um besser dazustehen, ist verliebt in eine unerreichbare Frau. Und natürlich hat er das Herz am rechten Fleck. Wie gesagt: ein sehr simpler Charakter. Ehrlich gesagt im Vergleich zum Rest des Mangas ZU simpel. Da er kein Sidekick ist, vermute ich stark, dass es da noch etwas Wichtiges gibt, das der Mangaka uns bisher verschweigt ...
Es gibt weitere Charaktere, die nach und nach eingebaut werden. Manche verschwinden wieder, andere erleiden einen grausamen Tod, wieder andere könnten vielleicht zu Freunden oder Gegenspielern werden. Ihnen allen ist gemeinsam, dass sie in teils nur wenigen Panels bereits eine erstaunlich ausgearbeitete Persönlichkeit verpasst bekommen.
Show, don´t tell wird auch hier sehr gut praktiziert. Der Manga erklärt nichts, aber er zeigt die Personen und Szenen sehr anschaulich.
ZEICHNUNGEN
Der Zeichenstil ist realistisch gehalten. Doch er variiert. Gelegentlich wird ganz klassisch mit Rasterfolie gearbeitet, dazwischen finden sich vereinzelt fotorealistische Szenen, und auch gibt es einige Bilder, die an Bleistiftskizzen erinnern mit ihren schraffierten Strichen und hell/dunkel-Verläufen. Diese Techniken gehen fließend ineinander über und ergänzen sich optimal. Dadurch gewinnt der Manga für mich auch an Individualität, außerdem unterstreicht es die Tatsache, dass GHOST TOWER stilistisch keinem konkreten Genre zugeordnet werden kann und die Schubladen immer wieder sprengt. So undurchschaubar der Inhalt (zumindest im ersten Band) ist, so ungewöhnlich wirken auch die Zeichnungen in vielen Momenten. Dadurch kommen einzelne Schockmomente umso überraschender, dadurch wirken grausame Szenen umso brutaler, auch wenn gar nicht einmal soviel Blut gezeigt wird.
Wie oben bereits angedeutet wird in den Zeichnungen auch sehr viel Inhalt transportiert. Ich kenne leider keine weiteren Werke des Autors, aber mir gefallen die Zeichnungen sehr, und sollten bei uns andere Titel von ihm erscheinen, werde ich auf jeden Fall einen Blick riskieren.
FAZIT
Ich bin erstaunt, dass ich ob der vielen Szenen, Charaktere, Stilelemente nicht schlicht überfordert bin wie sonst oft, aber im Gegenteil. Mir gefällt die Vielschichtigkeit des Mangas auf so vielen Ebenen, und ich brenne auf die Fortsetzung. Bisher sind vier Bände erschienen, der fünfte wird Ende Juni veröffentlicht.
Absolute Leseempfehlung für alle, die fernab von Mainstream eine ungewöhnliche Story lesen wollen!
**********
SPOILER
Ich wurde auf GHOST TOWER aufmerksam, weil der Protagonist eventuell ein Trans*Mann ist. Nach dem ersten Band muss ich sagen: hm. Möglich. Wer weiß. Schon im zweiten Kapitel stellt sich heraus, dass sich hinter der männlichen Kleidung, den kurzen Haaren, den schlanken behandschuhten Fingern und dem zierlichen Gesicht eine Frau verbirgt, sogar eine sehr attraktive. Abgesehen davon, dass dies gezeigt wird, ist es bisher nicht Thema des Mangas, da er / sie komplett männlich auftritt in der Öffentlichkeit.
Aber ihn / sie deswegen als Trans*Mann zu bezeichnen fällt mir schwer. Man weiß noch nicht, was dahinter steckt. Vielleicht spielt sie diese Rolle, um in der Gesellschaft anerkannter zu sein und mehr Möglichkeiten zu haben? Vielleicht muss sie sich vor jemandem / etwas verstecken? Vielleicht ist er tatsächlich ein Mann und lebt es stealth aus?
Ich bin gespannt, ob dies später noch Thema wird. Aktuell gefällt es mir aber, dass es noch keines ist. Ich mag es, wenn die LGBTIQ*-Charaktere in den Medien nicht das Hauptthema der Geschichte sind, sondern sie eben einfach da sind. Cis oder Heterosexualität werden ja auch nicht erklärt sondern sind einfach so vorhanden. Es ist schön, wenn dadurch eine Normalität entsteht, die sich hoffentlich eines Tages in der Gesellschaft verbreitet, nämlich dass es ganz normale Menschen sind, die andere Themen im Leben haben als immer nur ihre Neigung, Identität oder Libido.
Es bleibt also spannend, wie es mit Tetsuo weitergeht :-)
Es bleibt also spannend, wie es mit Tetsuo weitergeht :-)
*****************
SPOILER 2 (kein Inhalt, aber mehr Hinweise)
Es wird im dritten Band geklärt, was es mit Tetsuos Auftreten als Mann auf sich hat. Mir gefällt die Darstellung im Manga sehr. Und der Zeichner geht sehr schön auf die Thematik ein, es wird nachvollziehbar erklärt. Es wird auch infrage gestellt, was Männlichkeit und Weiblichkeit eigentlich ausmacht, ob man dies an Klischees festmachen kann, was es bedeutet als Mann / Frau zu leben in der Gesellschaft und was dies für die Betroffenen bedeutet. Trotz des ernsten Hintergrundes musste ich auch einige Male lachen, weil sehr schön gezeigt wird, wie Männer und Frauen unterschiedlich behandelt werde. Aber manchmal blieb mir das Lachen auch im Hals stecken. Und da der Manga sehr realistisch ist, gibt es auch einige sehr traurigen Momente ...
Da hat sich wirklich mal jemand mit diesem Thema auseinandergesetzt, ohne es auf billige Klischees zu reduzieren wie "dann kann ich hinterm Baum pinkeln" und "ich bin ja so hilflos als Frau", sondern ging gedanklich wirklich deutlich tiefer, das gefällt mir sehr gut.
Es wird im dritten Band geklärt, was es mit Tetsuos Auftreten als Mann auf sich hat. Mir gefällt die Darstellung im Manga sehr. Und der Zeichner geht sehr schön auf die Thematik ein, es wird nachvollziehbar erklärt. Es wird auch infrage gestellt, was Männlichkeit und Weiblichkeit eigentlich ausmacht, ob man dies an Klischees festmachen kann, was es bedeutet als Mann / Frau zu leben in der Gesellschaft und was dies für die Betroffenen bedeutet. Trotz des ernsten Hintergrundes musste ich auch einige Male lachen, weil sehr schön gezeigt wird, wie Männer und Frauen unterschiedlich behandelt werde. Aber manchmal blieb mir das Lachen auch im Hals stecken. Und da der Manga sehr realistisch ist, gibt es auch einige sehr traurigen Momente ...
Da hat sich wirklich mal jemand mit diesem Thema auseinandergesetzt, ohne es auf billige Klischees zu reduzieren wie "dann kann ich hinterm Baum pinkeln" und "ich bin ja so hilflos als Frau", sondern ging gedanklich wirklich deutlich tiefer, das gefällt mir sehr gut.
SaschaSalamander 10.06.2016, 08.39
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