SaschaSalamander

Ausgewählter Beitrag

Meine lesbische Erfahrung mit Einsamkeit

KLAPPENTEXT: Kabi Nagatas schonungslose und preisgekrönte Biographie: Die zehn Jahre nach Abschluss der Oberschule verbringt Nagata mit einem Gefühl des Erstickens. Um sich daraus zu befreien, beschließt sie, endlich ihrer sexuellen Neigung nachzugehen und sich in die Arme einer lesbischen Prostituierten zu begeben. Ein offenherziges Bekenntnis einer Frau, die bis an ihre Grenzen geht und mutig neue Wege einschlägt.








AUFMACHUNG

Einzelband, Manga im Großformat, mit 15 Euro ein ganz schöner Brocken. Und ich verstehe noch immer nicht, wann es "Manga" ist, und wann ein Titel als "Graphic Novel" vermarktet wird. Jedenfalls ist der Manga recht hochwertig aufgelegt, ein edles gut griffiges Papier mit einer Art Softcover. Der Preis hat mich ziemlich abgeschreckt. Aber er hat sich zumindest insofern gerechtfertigt, als die Lesezeit tatsächlich länger dauert als für einen gewöhnlichen Manga. Denn der Inhalt lässt sich nicht einfach überfliegen, er fordert Zeit und Mitdenken, die Bilder müssen gesehen und verstanden werden, manchmal ist eine kleine Pause nötig zum Innehalten und Verarbeiten. Als Schmuckstück im Regal also sein Geld wert, als Vielleser hätte ich mir dagegen eine billigere Gestaltung gewünscht.


THEMEN, TRIGGER, UMGANG MIT DRAMA

Titel und Aufmachung implizieren erst einmal ein Coming Out oder allgemein ein lesbisches Thema. Ja, das kommt vor, ist aber im Grunde nur eines von mehreren Themen. Es geht prinzipiell um die Biographie der Mangaka. Und da ist eine Menge, das sie zu verarbeiten hat: ihre stets mit ihr unzufriedenen Eltern, die starke Bindung an die Mutter, ihre Selbstverletzung (Magersucht, Bulimie, Haare reißen, Ritzen), ihre Depression, Probleme mit Job und Wohnung, keine Freunde. Ein ständiger Hunger nach Leben, Berührung, Kontakt.

Eine junge Frau, seit der Schulzeit ständig auf der Suche nach dem, was sie innerlich und äußerlich erfüllen kann. Obige Zeilen klingen nach extrem viel Drama, und inhaltlich ist es das auch. Doch die Schreibweise ist sehr erwachsen, reflektiert, und immer wieder gewürzt mit tiefgründigem Humor. Die Zeichnungen sind oft metaphorisch zu verstehen, etwa wenn sie aus ihrer eigenen Haut wie aus einem Overall heraussteigt oder sich selbst einen Tritt gibt. Sie arbeitet sehr oft mit der Darstellung ihres äußerlich sichtbaren und innerlich erlebten Ich, die beide in einem Bild auftreten. Da die Zeichnungen recht niedlich sind, werden die Themen zusätzlich etwas abgemildert, ohne dabei an Intensität zu verlieren.

Auch werden die obigen Themen alle ungeschönt angesprochen. Aber sie werden nicht "breitgetreten". Heißt, man sieht ihre Narben und liest auf einer Seite von ihrem Versuch, sich selbst besser spüren zu können. All diese Dinge sind so dargestellt, dass auch ein Außenstehender die Beweggründe nachvollziehen und sich gut in die Zeichnerin hineinversetzen kann.

Überhaupt ist der Manga keine nette Verpackung, sondern er zeigt ziemlich knallhart, wie es in ihr aussieht. Sie freut sich über eine Leistung, doch die Eltern hatten mehr erwartet und sind enttäuscht. Sie bewirbt sich, doch man rät ihr zu einem anderen Job. Sie wünscht sich Nähe und Sexualität, doch sie ist befangen und scheut den direkten Kontakt. Sie wünscht sich von den Kollegen Freundschaft und Nähe, doch sie erfüllt nicht die Anforderungen ihrer Aufgabe und wird gekündigt. Nein, überfliegen kann man diesen Manga sicher nicht. Es ist erstaunlich, wie enorm viel Inhalt auf diese wenigen Seiten gepackt werden konnte, und wie tief sie in die Materie einsteigt. Alle Achtung, das ist eine gelungene Leistung.

Von Triggerwarnungen halte ich im Allgemeinen nicht viel, aber hier sollte man vor dem Lesen tatsächlich wissen, auf was man sich einlässt (zumal Klappentext und Aufmachung etwas anderes implizieren).


BILDER

Wie bereits gesagt sind die Zeichnungen sehr metaphorisch und stellen das Innenleben der Mangaka greifbar dar. Es ist witzig gehalten, aber manchmal bleibt das Lachen auch im Hals stecken. Es ist erstaunlich, mit welcher Präzision sie eine Situation erfasst und mit wenigen Strichen so viel mehr zu sagen vermag als andere in ausschweifenden Worten.

Es sind keine manga-typischen Bildchen mit großen Augen, verschnörkelten Details, Speedlines und was sonst noch so dazugehört. Es gleicht tatsächlich eher einem Comic / einer Graphic Novel, der Stil ist skizzenhaft und lässt sehr viel Freiraum für Interpretationen. Ob es im Original ebenso ist, weiß ich nicht, im Deutschen jedenfalls ist alles in weiß, schwarz, grau und rosa gehalten, was den Bildern und somit der Geschichte eine gewisse Zartheit verleiht und den feinen Strich betont.


INSGESAMT

Der Manga hält etwas anderes, als die Werbung verspricht. Immerhin: er ist weit besser als erwartet. Allerdings ist es keine leichte Kost für zwischendurch.

MEINE LESBISCHE ERFAHRUNG MIT EINSAMKEIT ist die Geschichte einer ebenso verletzlichen wie auch starken jungen Frau, die sich inmitten all ihrer Probleme einen Weg in ein selbstbestimmtes Leben sucht. Klare Empfehlung für jeden, der sich hiervon angesprochen fühlt :-)

SaschaSalamander 28.10.2019, 11.06

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