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Ausgewählter Beitrag
Der lange Weg zu einem zornigen kleinen Planeten
Klappentext: Die junge Rosemary Harper möchte vor allem eins: ihren Heimatplaneten Mars und ihre Vergangenheit hinter sich lassen. Die klapprige Wayfarer mit ihrer skurillen Besatzung kommt ihr da gerade recht. Als Kapitän Ashby jedoch den Auftrag annimmt, einen Raumtunnel zu einem weit entfernten Planeten anzulegen, auf dem die kriegerische Spezies der Toremi lebt, bahnt sich eine Katastrophe an. Und für Rosemary beginnt das Abenteuer ihres Lebens.
Puh, ich weiß nicht, wo ich anfangen soll! Am liebsten würde ich eine ganze Facharbeit über dieses Buch schreiben, und selbst das würde wohl nur in Ansätzen gerecht. Ich habe das Gefühl, dass egal was ich schreibe einfach noch ganz viel fehlt. Vor allem deswegen, weil es für mich ein sehr emotionales Buch war, dessen Bedeutung für mich ich nur schwer in Worte fassen kann. Aber ich möchte es versuchen.
SOCIAL FICTION
Dazu vorab: Science Fiction liebe ich. Und oft entpuppen sich Sci-Fi Autoren als die wahren Philosophen, welche Zukunft am besten vorhersehen können. Jules Vernes hat vieles vorweggenommen, Star Trek war Inspiration und vieles davon wurde bereits umgesetzt oder sogar weit überholt, Michael Koser hatte mit JONAS DER LETZTE DETEKTIV, Lukianenko im >LABYRINTH DER SPIEGEL< erstaunlich präzise die Zukunft vorhergesehen. George Orwells beängstigende Dystopie ist schon lange von der Realität eingeholt worden. Dabei geht es mir aber weniger um das Technische, sondern vor allem um den Aspekt der Social Fiction.
Durch den Blick eines Aliens oder eines zukünftigen Wesens werfen sie einen Blick auf unsere Gesellschaft. Sie üben Kritik an ihr, verbessern sie, finden Lösungen und zeigen mit dem Finger auf die Probleme der Gegenwart. Spannend ist dabei auch, wie die Autoren sich immer der jeweiligen Zeit anpassen, in der sie schreiben. So war es in StarTrek (Kirks Zeiten) noch undenkbar, dass Schwarz und Weiß sich küssen und eine Bindung eingehen, geschweige denn eine Frau auf wichtigem Posten sitzen könnte. Heute (Discovery) heißt eine Frau Michael und statt schwarz/weiß küssen sich nun zwei Männer.
LGBTIQ
Ich liebe es also, in Form von Science Fiction einen Blick auf die Gegenwart zu werfen und kritisch das Gesellschaftssystem zu hinterfragen. Nun aber zu Becky Chambers DER LANGE WEG ZU EINNEM KLEINEN ZORNIGEN PLANETEN:
Der Klappentext sagt nur einen Bruchteil dessen aus, um was es geht. Denn neben Weltall, Techtalk und fremden Spezies geht es hier vor allem um Gender, Neigung, Identität und Beziehung. Also alles, was sich unter dem Regenbogen-Begriff LGBTIQ* zusammenfassen lässt. Hier ein paar Beispiele: Kizzy hat zwei Väter. Jenks ist verliebt in die KI des Schiffes. Die Ohan (optisch ein einzelnes Wesen) sind ein Sianatpaar, welche im Plural angesprochen werden. Ashby führt eine illegale interspeziäre Beziehung. Dr Koch ist ein Grum, welche ihr Geschlecht je nach Lebensphase wechseln. Sissix ist eine Aandrisk und sexuell sehr freizügig. Die Toremi sind Bigender und haben die Parthogenese für sich entwickelt.
Sprachlich wird dieses Thema sehr feinfühlig behandelt. Es gibt zum Beispiel das geschlechtsneutrale Pronomen ser (wenn das Geschlecht eines Gegenüber unbekannt ist). Auch wird in der Sprache darauf geachtet, nicht speziesübergreifend zu diskriminieren (etwa das Wort "kaltherzig", da die Aandrisk zwar Kaltblüter aber sehr herzlich sind).
Durch die Gespräche zwischen den einzelnen Crewmitgliedern verschiedener Spezies und die Besuche auf den Planeten wird immer wieder ein differenzierter Blick auf verschiedene Themen geworfen. Familie, Krieg, Respekt, Nacktheit, Sexualität, Kindheit Jugend Erwachsensein Alter, körperliche Gegebenheiten, Geschlecht, Beziehung, Identität, Mutterschaft, Zusammenleben. Auch gibt es ethische Diskussionen darüber, welches Recht oder gar welche Pflicht man hat, in das Leben eines anderen einzugreifen. Dabei zeigt die Autorin mit schlichten Worten und einleuchtenden Erkenntnissen ein zutiefst optimistisches Bild frei von Diskriminierung. Sie lässt aber auch viele Fragen offen, stellt Hypothesen in den Raum und konfrontiert den Leser mit der bitteren Wahrheit, dass es nicht für alles eine klare Antwort geben kann.
ERZÄHLWEISE / AUFBAU
Becky Chambers ist eine großartige Erzählerin! Jeder Satz sitzt perfekt, kein Wort zuviel, keines zuwenig. Von der ersten Seite an fesselt sie ihren Leser. Auch der Plot ist ihr hervorragend gelungen. Das Buch ist eine perfekt Kurve aus An- und Entspannung, die selbst bei den 543 Seiten nicht einen einzigen Moment der Langeweile aufkommen lässt.
Als auktoriale Erzählerin schlüpft sie in verschiedene Charaktere, sodass der Leser Einblick in unterschiedliche Ansichten, Meinungen, Hintergründe bekommt und eine Situation aus verschiedenen kulturellen und speziesübergreifenden Blickwinkeln betrachten kann. Wer aus Sicht des einen Charakters unsympathisch wirkt, hat plötzlich aus der Sicht eines anderen sehr gute Gründe für sein Handeln, der Leser muss seine eigenen Ansichten immer wieder geraderücken und anpassen und begreifen, dass er nur einen Teil der Wahrheit sieht und es nicht an ihm liegt zu urteilen.
Die Inhalte vermittelt sie vor allem in Dialogen zwischen den Charakteren, sodass man als Leser stets das Gefühl hat, als Crewmember mitten unter ihnen zu sein. Man sitzt mit ihnen am Tisch, begleitet sie auf den Planeten, hört ihnen zu, man beginnt sich mit ihnen anzufreunden, möchte mehr von ihnen erfahren. Auch der Techtalk wird nicht langweilig abgespult sondern von der quirligen MechTech Kizzy an die unerfahrene Rosemary erklärt, sodass auch der Laie gut folgen kann und versteht, wie das Tunneln im Weltall funktioniert.
Zwischendurch gibt es Textdateien (Zeitungsnachrichten, Newsletter, Infomails), die sachlich über eine Spezies, ein Ereignis oder etwas Technisches informieren und zusätzliches Wissen vermitteln.
FÜR MICH PERSÖNLICH
Ich liebe STAR TREK, DR WHO und FIREFLY, weil es etwas tief in mir berührt, das andere Bücher / Serien in dieser Form sonst nicht schaffen. Diese Titel begleiten mich in meinem Alltag, immer wieder finde ich Referenzen und trage es in mir. Wenn es mir schlecht geht, dann genügt eine Folge dieser Serie, und ich fühle mich besser. Exakt diesen Effekt hat auch DER LANGE WEG auf mich. Sehr oft musste ich lächeln oder grinsen, ich fühlte mich gut, die Zeit verging wie im Flug. Und einige Male habe ich (was selten vorkommt, wenn ich lese / Filme sehe) Tränen der Freude, Trauer oder Rührung vergossen.
Die Crew ist nicht eine fremde Crew, sie ist wie eine Familie. Sie erinnert an das Team aus FIREFLY, wenn sie gemeinsam beim Essen sitzen und miteinander frotzeln. Die Technikerin Kizzy erinnert in ihrer lebhaften Art zum Beispiel sehr an Kylie, immer wieder hörte ich sie mit deren Stimme und Tonfall reden. Dr. Koch ließ mich oft an die weise Guinan und den herzlichen Neelix denken. Sie alle sind so einzigartige Charaktere, dass ich gar nicht anders konnte als sie vom ersten Moment an zu mögen. Und ja, natürlich gibt es auch den obligatorischen Unsympathen (sowie gegen Ende eine Erklärung für seine fiese Art, was diese nicht angenehmer aber verständlicher macht).
Sosehr ich gerne objektiv betrachte und selbst bei noch so positiven Dingen etwas Negatives anmerken kann (das ist kein Nachteil sondern liegt in der Natur der Sache, nichts ist perfekt und alles hat zwei Seiten) - bei diesem Buch kann ich zumindest für mich persönlich nichts Negatives finden (außer einer Ansicht, die ich nicht mit der Autorin teile, aber das ist keine Kritik am Buch).
Einzig: ich willwillwill Merchandise. Möchte mir eine Aandrisk ins Regal stellen. Ich will mich mit Fans austauschen, will den Film sehen und mir einen Kalender an die Wand hängen und das Modell der Wayfarer auf meinem Schreibtisch stehen haben! Ich will ein Fandom mit allem, was dazugehört! Auf die Gefahr hin, dass mein Eindruck während des Lesens dadurch geschmälert wird - die Bilder, welche die Autorin zeigt sind so klar und deutlich gezeichnet, dass es recht leicht fallen dürfte, dies filmisch umzusetzen. Ich hoffe inständig, dass ein großartiger Regisseur sich hierfür die Rechte schnappt!
WIE GEHT ES WEITER
Am 25. Januar erscheint der zweite Teil mit dem Titel ZWISCHEN DEN STERNEN. Am 27. März erscheint UNTER UNS DIE NACHT. Die Titel sind jeweils eigeständig und hängen nicht zusammen, spielen aber alle im gleichen Universum. Es gibt Überschneidungen, so ist die Protagonistin des zweiten Buches die Künstliche Intelligenz des Raumschiffes Wayfarer aus dem ersten Teil. Ich gehe jedoch davon aus, dass man es eigenständig lesen kann. Und klar: DAS sind mal Titel, die ich direkt zum Erscheinungstermin kaufen und kurz danach hier vorstellen werde ;-)
ZUSAMMENFASSUNG
Für Sci-Fi-Fans. Für Nerds. Für Romantiker. Für Abenteurer. Für Fans von TV-Serien. Für queere Personen. Für Leseratten. Für Menschen. Es ist ein Roman, der sich unabhängig von Geschlecht, Alter oder bevorzugtem Genre lesen lässt. Niemand kommt zu kurz, es ist für jeden etwas dabei:
Fremde Kulturen, Ethik, Action, ruhige Momente, Romantik, Liebe, Sexualität, Religion, Cyberpunk, Modding (Körper und Technik), Diplomatie, Sprachen und Weltanschauungen, Altmodisches und Gegenwärtiges und Futuristisches.
SaschaSalamander 14.01.2019, 08.46
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