SaschaSalamander

Blogeinträge (Tag-sortiert)

Tag: Deutsch

Der Junge, der Gedanken lesen konnte

boie_gedanken_1.jpgINHALT

Valentins Vater und seine restliche Familie blieben damals nach dem Tod seines Bruders Artjom in Kasachstan, nur er und seine Mutter kamen nach Deutschland. Und nun heißt es wieder umziehen, denn seine Mutter hat eine Stelle als Marktleiterin bekommen. In seinem neuen Zuhause muss er sich erst zurechtfinden, hat noch keine Freunde. Auf dem Weg in die Bücherei begegnet er Mesut, der in seiner Straße wohnt und der ihm nicht geheuer ist. Und auf dem Friedhof lernt er Herrn und Frau Schelinsky kennen, Herrn Schmidt, "Dicke Frau" und den Friedhofsgärtner Herr Bronnislav, eine gesellige Runde. Mit ihnen versteht er sich gut, er kommt nun immer öfter auf den Friedhof. Bald freundet er sich auch mit Mesut an, der ihn begleitet. Eines Tages erfährt Valentin von einem Verbrechen, und Herr Bronnislav könnte darin verwickelt sein, aber das will Valentin nicht glauben und beginnt auf eigene Faust zu ermitteln. Dabei ist ihm seine neuentdeckte Gabe, Gedanken lesen zu können, sehr hilfreich.


FANTASY (GEDANKENLESEN)

Obwohl Valentin Gedanken lesen kann, ist dies nicht der Kern des Buches, den Leser erwartet kein Fantasy. Der weise Herr Schmidt kommentiert es treffend, wenn er meint, er habe schon so viel gesehen und erlebt, warum also nicht auch einen Jungen, der Gedanken lesen kann? Außerdem ist Valentin gar nicht so begeistert, ihm wird übel dabei, und er fühlt sich wie ein Eindringling, wenn er die persönlichen Gefühle der anderen teilt, er vermeidet es nach Möglichkeit. Eigentlich hätte man diesen Aspekt komplett aus dem Buch weglassen können, es hätte nicht gefehlt. Trotzdem bietet es natürlich zusätzlichen Diskussionsstoff und ist eine nette Ergänzung zur eigentlichen Handlung.


KRIMI (VERBRECHEN)

Die Aufklärung des Verbrechens ist wichtig, aber nicht der Kern. Valentin vergleicht sein Vorgehen immer mit der Kinderbande, von der er schon viele Bücher gelesen hat. Das fand ich nett umgesetzt von der Autorin, nimmt es doch freundlich das Genre der Kinderdetektive ein bisschen aufs Korn, obwohl es ja selbst ein Jugendkrimi ist.


MULTIKULTI

Ganz nebenbei wird auch das Thema der Multikulti-Gesellschaft angesprochen. Valentin kommt aus dem Kasachstan, Mesut ist Türke, Bronnislav ist Pole (wie er niemals müde wird zu betonen, wenn Herr Schmidt wieder "Alter Schwede" von sich gibt). Es ist allen egal, woher sie kommen, und doch bringen sie alle ihre eigenen Geschichte mit. So besteht in Mesuts Familie z.B. die Frage, ob sie den Urlaub in der Türkei verbringen wollen oder doch auf Gran Canaria. Auch Mesut erinnert sich viel an seine alte Heimat und überlegt, wo er nun hingehört. Doch wie gesagt ist dies etwas, das nebenbei geschieht und auf diese Weise den jungen Hörern ganz entspannt aufzeigt, wie Menschen verschiedenster kultureller Hintergründe miteinander auskommen und ihren Alltag erleben.


TOD UND STERBEN

Was den Großteil des Buches ausmacht, ohne sich dabei unangenehm in den Vordergrund zu drängen, das ist das Thema Tod und Sterben. Hier gehen alle verantwortungsvoll und bewusst damit um, aber ohne Tammtamm, ohne Angst. Sterben wird als ein Teil des Lebens betrachtet. Natürlich stellt sich auch die Frage, warum junge Menschen sterben müssen und ob das gerecht ist. Durch die entspannte Grundhaltung der erwachsenen Protagonisten ist das Buch sehr informativ und interessant für Kinder zu lesen. Die Freunde treffen sich auf dem Friedhof, weil sie kein Geld für einen Schrebergarten hatten, also beschlossen sie ihr Grab schon zu Lebzeiten zu kaufen und dieses kleine Fleckchen vorab zu nutzen. Sie möchten ihre "Nachbarn" kennenlernen, sie genießen das Leben und akzeptieren den Tod, freuen sich an der Natur, den wiederkehrenden Besuchern, bringen sogar Würstchen und Salat mit, sitzen auf Klappstühlen. Ob dies eine lebensbejahende Einstellung ist oder verwerfliche Störung der Totenruhe, das ist ein ständiger Streitpunkt zwischen dem Antagonisten (Verwalter des Friedhofs) und Familie Schelinsky. Kindern und Jugendlichen wird dadurch gelehrt, dass der Tod nichts Beängstigendes ist. Man soll das Leben genießen und Feiern, darf sich vor dem Tod aber nicht verschließen.

Da jedoch sein Bruder noch als Jugendlicher starb, hat unser Junge nun mit vielen Fragen zu kämpfen. Er trägt das Gefühl in sich, dass Artjom der bessere von ihnen war und er nun schlechter ist, seinen Bruder niemals ersetzen kann. Er fühlt sich schuldig, weil er kurz vor dem Unfall einen Streit mit ihm hatte, ohne den es vielleicht nie passiert wäre. Und sein Handeln richtet er stets danach, was sein großer Bruder getan hätte, denn der war klug und mutig. Während die Familie nicht mit ihm über diese Probleme reden kann und will, findet er in den Freunden auf dem Friedhof und in Mesut nun endlich Menschen, die ihm weiterhelfen. Besonders der alte Herr Schmidt gibt ihm Kraft und hilft ihm, sich von der Vergangenheit zu lösen und nun endlich vorwärts zu leben.

Und all das - ohne Zeigefinger, ohne umständliche Erklärung, sondern zwischen den Zeilen, verpackt in einen gemütlichen Krimi mit sympathischen Charakteren und zwei gewitzten jugendlichen Identifikationsfiguren.


CHARAKTERE

Zu den Charakteren habe ich im Abschnitt Genre ja eben bereits einiges erzählt. Sie wachsen dem Leser sofort ans Herz. Jugendlichen, weil sie sich in den beiden Jungs wiederfinden und von den Erwachsenen verstanden fühlen. Und den erwachsenen Lesern, weil die Kids wirklich sehr realitisch und kindlich - gewitzt dargestellt sind und die Erwachsenen mit ihrer aufgeschlossenen, lebensbejahenden Art gefallen. Jeder von ihnen trägt sein Päckchen mit sich, viele kleine Geschichten verbergen sich hinter den einzelnen Lebensläufen.

Schön zu beobachten ist auch, wie Valentin sich im Laufe der Handlung verändert: seine Einstellung zum verstorbenen Bruder überdenkt, sich mit dem anfangs von ihm gefürchteten Mesut anfreundet und wie er lernt mit seiner Gabe des Gedankenlesens umzugehen. Mit Valentin, Mesut, Schelinsky, Schmidt (samt Hund Jiffles) und Bronnislav hat Kirsten Boie Charaktere geschaffen, die mir seit dem Lesen vor einigen Tagen noch immer durch den Kopf gehen. Ich habe sie liebgewonnen, als wären es gute Freunde, und nur ungern habe ich mich am Ende von ihnen getrennt.


SPRECHER

Can Acikgöz ist ein sehr junger Sprecher, Jahrgang 2000. Er gewann 2012 den Lesewettbewerb des Deutschen Buchhandels und bekam nun die Möglichkeit, dieses Hörbuch zu sprechen. Und ich war wirklich begeistert! Mag sein, dass er erst 12 ist, dass er kein professioneller Sprecher ist, aber dafür macht er seine Sache wirklich großartig. Und ich finde es eine wirklich mutige und vor allem begrüßenswerte Idee, dass der Verlag keinen professionellen Sprecher engangiert hat sondern eben Can. Dadurch ist die CD den Kindern näher, als würde ein jugendlicher oder gar erwachsener Sprecher den Text einlesen.

Ja, hier und da macht er kleine Fehler, und natürlich hört man, dass er sich Mühe gibt (bei einem professionellen Sprecher klingt es locker und selbstverständlich). Aber gerade das macht es auch überaus sympathisch, ich habe ihm sehr gerne zugehört. Ich habe etwa eine Drittel CD gebraucht, um mich an seine Betonung zu gewöhnen (da er eben noch sehr bewusst liest, betont er genau und oft etwas zuviel, sodass die Sprachmelodie sehr ungewohnt ist im ersten Moment), und danach war ich wie gesagt ziemlich begeistert über das, was er da an Leistung abgeliefert hat. Seine Aussprache ist wirklich sehr gut und ohne weitere Beanstandungen, ein klar verständliches Hochdeutsch ohne große Ausrutscher. Sein Sprachtempo ist optimal, die Stimme klingt angenehm im Ohr und hat einen recht guten Wiedererkennungswert.

Was ich besonders anmerken möchte ist sein Talent, verschiedene Sprechweisen, Dialekte und Sprachmuster zu imitieren. Jeder Charakter hatte eine eigene Stimme, eine eigene Melodie, einen ganz eigenen Akzent. WOW! Das ist etwas, das selbst unter den geübten Sprechern nicht alle beherrschen, und Can scheint da wirklich eine natürliche Begabung dafür zu haben. Mesut mit seinem "ey Alder" ebenso wie die verwirrte "Dicke Frau" oder Bronnislav mit seinem polnischem Akzent, der bedächtige alte Herr Schmidt, sie alle bekommen ihre eigene Note verpasst, das Hören war für mich ein richtiger Genuss.


FAZIT

Ein herausragendes Kinderbuch, das wirklich allen Anforderungen von Pädagogik und Unterhaltung gerecht wird. Ich bin ja immer sehr kritisch in der Vergabe meiner Punkte, aber ich wüsste wirklich nicht, wo ich hier etwas abziehen sollte. Im Gegenteil, gerne lege ich noch ein bisschen drauf, als kleinen Bonus für Can, der hier wirklich eine bemerkenswerte Leistung erbracht hat. Can, super gemacht, ich hoffe auf weitere Kinder- und bald auch Jugendhörbücher von Dir!

Wertung: 12 von 10 Golddollar


SaschaSalamander 20.08.2012, 16.37 | (1/1) Kommentare (RSS) | PL

Darkside Park

INHALT

Porterville ist ein kleines Städchen, beschaulich und gemütlich. Nette Nachbarn, eine stets aufmerksame Polizei, die Straßen sauber und frei von Kriminalität. Wer hierherkommt, der kann sich auf einen ruhigen Lebensabend freuen, und auch seine Kinder kann man hier perfekt großziehen, einfach ideal für jeden, der kleine idyllische Orte mag. Doch hinter der Fassade lauert das Grauen. Menschen verschwinden, einige bleiben auf ewig verschollen, andere tauchen wieder auf, sind danach völlig verändert und traumatisiert. Ein Serienmörder verteilt zur Warnung Tarotkarten an seine ausgewählten Opfer. Und immer wieder hört man vom "bleichen Mann". Was ist das Geheimnis von Porterville?


GESAMMELTE LINKS

Eine Gesamtrezension für eine komplette 18teilige Serie ist schwierig, und deswegen habe ich mir vorab schon einige Gedanken gemacht. Zu jedem der 18 Teile habe ich meine Gedanken notiert. Nicht als Rezension, sondern als kurze Meinung zur jeweiligen Folge.

Einleitung
>Teil 01 - Interview mit Ed<
>Teil 02 - Das böse Zimmer 01<
>Teil 03 - Der Gesang der Ratten 01<
>Teil 04 - Das böse Zimmer 02<
>Teil 05 - Porterville Times<
>Teil 06 - In den Jagdgründen<
>Teil 07 - Die verbotene Lichtung<
>Teil 08 - Porterville Steaks<
>Teil 09 - Das kalte Licht<
>Teil 10 - Lauter nette Damen<
>Teil 11 - Der Gesang der Ratten 02<
>Teil 12 - Jenseits des Rubikon<
>Teil 13 - Augen der Nacht<
>Teil 14 - Die Stille des St Helena Parks<
>Teil 15 - Die geheimen Kinder<
>Teil 16 - Die Farbe des Chamäleons<
>Teil 17 - Frischling, Frischling<
>Teil 18 - Willkommen in Porterville<


UMSETZUNG, AUFBAU

Die ersten 17 Folgen sind jeweils in sich geschlossene Geschichten aus der Ich-Perspektive. Verschiedene Beteiligte kommen zu Wort. Mal ist es ein fremder Gast von außerhalb der Stadt, mal ein Bewohner der Stadt ohne Hintergrundwissen, später auch Eingeweihte und Mitwisser. In der ersten Staffel haben die Folgen sehr wenig Bezug zueinander, und recht lange fragt man sich, was die einzelnen Figuren verbindet und welchem Zweck die Darstellung deren Situation jeweils dienen soll. Während die Serie dann langsam voranschreitet, gibt es nach und nach immer mehr Querverbindungen. Figuren aus anderen Geschichten werden erwähnt, hier und da wird eine Handlung aus nun einer anderen Perspektive geschildert, Symbole und Elemente aus anderen Episoden tauchen erneut auf. Doch der eigentlichen Lösung kommt man nicht wirklich näher. Da man weiß, dass DARKSIDE PArK mit 18 Folgen abgeschlossen ist, stört das jedoch nicht, auch wenn man gerade in der zweiten Staffel manchmal nah an der Verzweiflung ist, endlich mehr wissen will und sich noch so weit von der Antwort entfernt fühlt. Perfekt gemacht, die Spannung steigt von Stunde zu Stunde.

Auch, wenn jede Geschichte eine eigene Handlung in sich birgt und für sich selbst abgeschlossen ist, so gibt es doch eine übergeordnete Handlung. Manche Episoden dienen dabei lediglich als Füllelement und vervollständigen das Gesamtbild. Andere dagegen treiben das Geschehen um Martin Prey, der bald zum eigentlichen Protagonisten der Serie wird, voran. Die oben unter "Inhalt" geschilderte Zusammenfassung ist das Gesamtbild, die Handlung um Martin ist wesentlich konkreter: Martin trifft auf Sarah und erfährt durch sie, dass die Stadt ein Geheimnis birgt. Er beginnt zu ermitteln, wird dabei selbst zum Gejagten und irrt durch die Stadt, trifft auf verschiedene Mitstreiter und Gegner, bis er endlich am Ziel ist und alles erfahren soll.


SECHS VERSCHIEDENE AUTOREN

Die Zusammenarbeit verschiedener Autoren finde ich mehr als gelungen. Ein Gesamtkonzept, an dem sich alle orientieren, dabei aber kreative Freiheit. "Viele Köche verderben den Brei", mag man im ersten Moment denken. Hier aber hat das Projekt eine außergewöhnliche Eigendynamik gewonnen, die Anerkennung verdient. Sechs Autoren, unterschiedlich in ihrer Erzählweise und ihrem Ausdruck, haben gemeinsam ein Bild gemalt, das in sich stimmig ist. Sie alle haben dem DARKSIDE PARK ihren eigenen Stempel aufgedrückt, ohne sich dabei in den Vordergrund zu drängen.

Bei 18 Folgen kann es schnell passieren, dass es bald langatmig wird, dass man abbrechen möchte oder mittendrin die Lust verliert, Spannung hin oder her. Mir zumindest geht es so, dass ich nicht gerne allzu lange mit einer einzigen Reihe beschäftigt bin. Durch die unterschiedliche Vorgehensweise der Autoren allerdings hätte es für mich noch ewig so weitergehen können, es gab ausreichend Abwechslung und trotzdem immer einen roten Faden.

Folgen, die mir weniger gut gefielen, wurden von anderen Hörern teilweise als Lieblingsfolgen benannt. Was mich absolut begeisterte, fanden andere wieder nicht so gut. Mit anderen Worten, das Gesamtbild ist grandios, es gibt schwächere und stärkere Folgen, doch dies liegt nicht an schlechtem Handwerk sondern persönlichen Vorlieben der Hörer. Es ist also für jeden etwas dabei, Porterville dürfte aufgrund seiner Vielfalt und des auf verschiedenen Ebenen erzeugten Spannung weit mehr Fans ansprechen, als ein einzelner Autor es geschafft hätte.

Spannung baut sich durch die sechs Autoren und deren voneinander abweichende Erzähltechnik auf vielen verschiedenen Ebenen auf, die Genres mischen sich bunt durcheinander. Hardboiled, Phantastik, Horror, Thriller, Krimi, Cosy. Mal der knallharte Typ mit rauer Schale weichem Kern, mal die netten alten Ladies, mal eine historische Geschichte um Indianer, ein andermal ganz normale junge Erwachsene wie Du und Ich. Einige Geschichten erinnern in ihrer Düsternis und Direktheit an Stephen King, andere führen den Hörer im Stil eines H P Lovecraft direkt an die Grenzen des Wahnsinns. Mal Blut und Knochenknacken, mal "Arsen und Spitzenhäubchen", mal Gänsehaut und nackte Angst.


SPRECHER

Alle Rollen sind durchweg grandios besetzt mit bekannten Stimmen aus den Bereichen Hörbücher, Hörspiele, Filme. Sie alle machen ihre Sache professionell und mit sehr viel Elan, man hat hier sehr gute Arbeit geleistet bei der Auswahl, Koordination und Regie. Nicht nur im Ausdruck, auch Tonfall, Klang der Stimme, alles passt so perfekt zu den jeweiligen Protagonisten, dass man regelrecht einen 18stündigen Film vor sich zu sehen glaubt.

Bei diesem Punkt weiß ich gar nicht so recht, was ich weiter schreiben kann als "prima gemacht". Einzig mit einem Sprecher konnte ich mich nicht so recht anfreunden, da ich die Art des Vortrags zu wenig emotional und zu monoton fand. Bei 18 Folgen kann man keinesfalls 100 Prozent erwarten, aber der DARKSIDE PARK ist verdammt nahe dran ;-)


HÖRBUCH / HÖRSPIEL

Teil 1 bis 17 sind reine Hörbücher. Hörspieltypisch allerdings ist das klassische Intro von Friedrich Schönfelder, der den Hörer begrüßt und dann die Überleitung zur aktuellen Geschichte gibt. Zu Beginn und am Ende gibt es dann noch jeweils ein kurzes Geräusch. Es ist nur ein leises, unaufdringliches Geräusch, aber es ist faszinierend, wie stark diese Wirkung ist! Besonders in einer Folge stach es drastisch heraus und verlieh der gesamten Story zusätzlich noch einmal den perfekten Abschluss.

Obwohl es ein Hörbuch ist, sortiere ich es gedanklich immer in die Kategorie Hörspiele. Teilweise wegen der typischen Hörspielsprecher, aber auch weil ich es trotz des jeweils einzelnen Sprechers immer als Hörspiel empfunden haben. Sie haben die jeweiligen Dialoge so gut verkörpert, dass man stellenweise regelrecht vergass, dass nur ein einziger Sprecher vor dem Mikrofon saß!

Folge 18 dagegen ist ein Hörspiel mit zwei Protagonisten und kleinen Nebencharakteren. Ich muss zugeben, dass ich sosehr auf die Gespräche zwischen Martin und Hudson fixiert war, dass ich wenig auf Musik und Geräusche geachtet habe, jedoch ist mir nichts negativ aufgefallen, auch hier war wieder alles in sich stimmig und eben richtig "rund". Nur selten nimmt ein Hörspiel mich derart gefangen, dass ich das "Drumherum" völlig vergesse und mich nur noch komplett auf den Inhalt konzentriere.

Ich weiß nicht, ob ein Hörspiel teurer ist als eine Lesung, vermutlich ja (da man mehr Sprecher braucht, Musik und Geräusche, es macht wohl mehr Arbeit als ein Soloauftritt). Ansonsten hätte ich es großartig gefunden, wenn die Reihe komplett als Hörspiel gemacht worden wäre, oder wenn man wenigstens die reine Lesung zu einer szenischen Lesung aufgestockt hätte, mit etwas mehr Geräuschen und hier und da Musik im Hintergrund zum Verdichten der Atmosphäre.


ABSCHLUSS IN FOLGE 18

Das Ende hat mir sehr gut gefallen. Recht schnell zeichnet sich ab, worauf es hinausläuft. Klar, exakt das Ende konnte wohl niemand vorhersehen, aber die Tendenz war klar. Und auch für konkretere Informationen gab es einige Hinweise. Absolut zufriedengestellt hat es vermutlich niemanden, dazu ließ es einfach zuviele Fragen offen. Trotzdem, gerade in diesem Genre ist es nicht wirklich möglich, alles zur Zufriedenheit zu klären, und das offene Ende sowie die unbeantworteten Fragen sind in einem für mich annehmbaren Umfang. Dafür, dass man 17 Folgen lang auf diesen einen Moment hingezittert hat, wäre etwas mehr wünschenswert gewesen, der DARKSIDE PARK ist perfekt für jede Menge Spin-Offs, Prequel, Sequel und eine Fortsetzung. Auch, wenn ich das Ausschlachten eines erfolgreichen Titels durch Fortsetzungen verachte, würde ich es hier ausnahmsweise sogar begrüßen. Nicht, weil ich unbedingt mehr will, sondern weil es einfach schade ist, dass so viel genialer Stoff nun ungenutzt in den Hirnen der Autoren brachliegt und nicht geteilt wird. Es gibt so viel, was man noch aus der Serie noch machen kann!


FAZIT

Der DARKSIDE PARK ist ein Projekt, das es in dieser Form noch nicht gab. Ivar Leon Menger und seinen Kollegen ist ein Meisterwerk gelungen, das so schnell niemand wiederholen kann, etwas ganz Eigenes und Anderes wurde hier erschaffen. Die Reihe packt den Hörer von der ersten Folge an und hält ihn bis zur letzten Episode gefangen, indem sie eine perfekte Mischung unterschiedlichster Genre und Erzähltechniken darbietet.

Und zum Abschluss: wer die Reihe bereits gehört hat, der wird nach Folge 18 wohl sehr viele Fragen haben. Viele von diesen Fragen wurden von Ivar Leon Menger und anderen Autoren ausführlich und nachvollziehbar im Forum der >Hörspiel-Freunde<

Wertung: 95 von 100 Versandhauskataloge

SaschaSalamander 15.08.2012, 09.18 | (0/0) Kommentare | PL

Hörig und ausgeliefert

hoffmann_daemonenprinz_1.jpgÜber Arne Hoffmann möchte ich an dieser Stelle gar nicht so viel erzählen, wurde doch sogar bei >Wikipedia< sowie auf seiner >Homepage< ausführlich über bzw von ihm geschildert. Interessant finde ich vor allem die Bandbreite seiner Veröffentlichungen von Politik über Grenzwissenschaften, Ratgeber, Thriller, Erotik in den unterschiedlichsten Themenbereichen, etwa DIE SKLAVENMÄDCHEN VON WIESBADEN und ONANIEREN FÜR PROFIS neben POLITICAL CORRECTNESS: ZWISCHEN SPRACHZENSUR UND MINDERHEITENSCHUTZ, LEXIKON DER TABUBRÜCHE, LEXIKON DES JENSEITS, DER FALL EVA HERMANN oder WARUM HOHMANN GEHT UND FRIEDMAN BLEIBT. Er genießt es, mit seinen Büchern zu provozieren, und man sollte als Leser wissen, dass man ganz sicher kein Standardwerk in der Hand hält, wenn man zu einem seiner Titel greift.

Ursprünglich erschien HÖRIG UND AUSGELIEFERT unter dem weniger reißerischen Titel DER DÄMONENPRINZ. Auch das Cover der alten Ausgabe gefällt mir besser, da die psychedelischen Farben gut meinen Leseeindruck widergeben.

Jeremiah erlebt als Jugendlicher eine Show-Hypnose und ist seitdem fasziniert von dem Gedanken der Macht durch Gedankenkontrolle. Er liest alles, was ihm in die Hände fällt, und bald macht er in der Oberstufe erste Erfahrungen, hilft Schülern mittels Hypnose bei der Entspannung und Prüfungsvorbereitung. Als sie ihm zu vertrauen beginnen, begeht er das erste Mal den Tabubruch und verlangt etwas, das nicht abgesprochen war. Langsam tastet er sich voran, bis ihm bewusst wird, dass er tatsächlich Macht über den Willen seiner Freunde ausüben kann. In Simone findet er ein williges Opfer, sie genießt es, von ihm zu kleinen Spielchen gezwungen zu werden, geistige Fesseln angelegt zu bekommen. Doch bald geht Jeremiah zu weit, die Macht über seine Freundin genügt ihm nicht, er will mehr. Immer stärker wird seine Kraft, immer tiefer dringt er in das Bewusstsein seiner Opfer, bald ist er nicht mehr auf die Einwilligung der Betroffenen angewiesen. Bald wird ihm bewusst, wer er wirklich ist und welche Möglichkeiten sich ihm in der Realität tatsächlich eröffnen.

Bezüglich der Praktiken mag es einige weit heftigeren Bücher geben, zum Beispiel >SKLAVENJAGD< oder >DAS LETZTE ELEMENT<. Was der Autor hier allerdings macht, ist gewagt: hier gibt es keine Einwilligung, und die Subs / Sklavinnen sind auch nicht freiwillig in ihre Rolle geschlüpft, sie sind tatsächlich Opfer. In "normalen" Thrillern gang und gäbe, in erotischen Romanen eine gewagte Darstellung. Allerdings gelingt es Hoffmann, mit einem absolut unerwarteten Twist nach rund 60 Seiten die Handlung in einem völlig neuen Licht darzustellen und dem Buch die Schärfe zu nehmen. Wer also bereits die Keule in der Hand hielt und ordentlich loswettern wollte, der darf sie getrost wieder einpacken - das Buch gleitet ab auf eine Ebene, die so abgehoben und fernab der Realität ist, dass "normale" Maßstäbe nicht mehr greifen. Eine geschickte Idee, das Kopfkino auf diese Weise zum Klingen zu bringen und dem Leser ein faszinierendes Gedankenspiel zu präsentieren.

Der Protagonist ist ein Außenseiter, und je mehr Macht er gewinnt, desto größer wird sein Drang, sich rückwirkend an allen zu rächen, die ihn damals abwiesen. Und es waren viele Frauen, die ihm einen Korb gegeben haben, oh ja! Die Wandlung Jeremiahs findet auf vielen Ebenen statt. Anfangs ist er unsicher, wagt nur vorsichtige Versuche und geht noch recht planvoll vor, bald wird er wagemutiger, unvorsichtiger, bis er am Ende aggressiv, wahllos und ohne Plan einfach nur noch tut, wonach ihm der Sinn steht. Auch in der Wortwahl kann man die Entwicklung Jeremiahs verfolgen. Anfangs ein pubertierender Junge, der hier und da Spaß an ein paar einzelnen Kraftausdrücken hat, der später immer laxer mit seiner Sprache umgeht und am Ende hemmungslos mit allem um sich wirft, schließlich ist es ihm eh egal, wer soll ihn denn bitte maßregeln oder eingrenzen?

Stellenweise ufert das Buch ziemlich aus, es wirkt wie eine knallbunte Phantasie eines jungen Mannes mit viel zuviel Testosteron, und ich war an einem Punkt fast soweit zu sagen, dass ich es weglege, weil es mir einfach zu verrückt wurde. Doch genau in dem Moment passiert der Twist, und was ich anfangs noch eher skeptisch betrachtete, wurde danach zu einem absoluten Vergnügen. Leider ist es mir nicht möglich, ohne Spoiler Andeutungen zu machen oder irgend etwas zu verraten. Nur soviel: ich habe mich köstlich amüsiert. Und der Autor erspart mir die Arbeit, das Buch im Aufbau und der Charakterentwicklung zu analysieren, dies geschieht hier von ganz von selbst auf höchst unterhaltsame Weise, gewürzt mit einer ordentlichen Portion Selbstironie.

In vielerlei Hinsicht werden Realität und Fiktion verwoben. Wer sich für das Thema Hypnose interessiert, wird hier einige Literaturempfehlungen finden, der Autor benennt reale Lektüre, gibt eigenen Büchern sogar kleine Cameo-Auftritte und bezieht sich in den Forschungen Jeremiahs auch auf das Parapsychologische Institut in Freiburg, benennt reale Personen. Natürlich kann man den Roman einfach lesen, diese Punkte ignorieren, wer aber ein bisschen recherchiert, wird so manche interessante Überraschung erleben.

Ein durch und durch ungewöhnliches Buch, hocherotisch, dabei aber humorvoll und spannend. Flüssig zu lesen und auf jeden Fall ein Titel, den man nicht so schnell vergisst.

Wertung: 8 von 10 mentale Fesseln

SaschaSalamander 09.08.2012, 08.56 | (0/0) Kommentare | PL

Rückkehr ins Stirnhirnhinterzimmer

aster_stirnhirn_1.jpgDrei Autoren treffen sich regelmässig in der Z-Bar Berlin: Christian von Aster, Markolf Hoffmann und Boris Koch unterhalten dort die Gäste mit ihren Geschichten. Daraus entstand unter anderem die Anthologie RÜCKKEHR INS STIRNHIRNHINTERZIMMER, wo 18 der kreativen Werke präsentiert werden.

Eine Zusammenfassung zu geben ist nicht möglich, zu unterschiedlich sind die Geschichten. Hätte ich die Zeit (was bei 18 Geschichten leider nicht möglich ist, auch wenn es mich bei den meisten Titeln arg in den Fingern juckt), würde ich am liebsten zu jeder eine eigene Rezension schreiben, sie genüsslich zerlegen, analysieren und vorstellen. Natürlich gibt es stärkere und schwächere Momente im STIRNHIRNHINTERZIMMER, aber der Großteil hat mich begeistert.

Als ich fremde Rezensionen las und auch die Beschreibung des Buches, war ich etwas ratlos, denn man kann sich nichts darunter vorstellen. Und leider kann ich es nicht anders machen als all die anderen Rezensenten: einzelne Elemente des Buches widergeben, um die überschwappende Kreativität des Trios darzustellen. Auch, wenn meine Leser nicht wissen, was man sich nun unter den folgenden Beispielen vorzustellen hat. Macht nichts, dazu sind Rezensionen da: wenn es Euch neugierig macht, werft einen Blick in das Buch ;-)

Es gibt Dinge, die kann man nicht beschreiben. Zum Beispiel einen Handwerker, der mit dem Akkuschrauber Frauen repariert. Den Automatenwart, der den größten Automaten des Universums repariert und dafür alle Zeit der Welt hat. Das Glückskind, dessen Glücksrezept die Welt in den Untergang stürzt. Der ewige Krieg zwischen Ober- und Unterdorf (oh, ich fühlte mich SO an meine Kindheit erinnert!). Paisleytapeten und Gänseblümchen in der Hölle für das unaussprechlichste aller Rituale. Sülze, Sülze und nochmal Sülze. Das Autogramm des King of Rock´n Roll auf dem Konterfei von Walter Ulbricht. Eine so streng geheime Arbeit, dass sogar der Staat die streng geheimen Mitarbeiter vergaß.

Man kann das Büchlein einfach nur von vorne bis hinten lesen und sich über den cleveren Humor freuen, sich amüsieren und unterhalten. Oder man kann die Geschichten einzeln lesen, sich Zeit lassen und über den Inhalt und die Hintergründe sinnieren (weswegen ich mehrere Wochen für dieses an sich dünne Büchlein brauchte). Mal habe ich geschmunzelt, mal verbittert geschnaubt, ein andermal schallend gelacht, die Palette an hervorgerufenen Emotionen in diesem Buch ist groß, die Autoren spielen mit ihren Lesern und scheuchen sie von einem Eck des Stirnhirnhinterzimmers ins nächste.

Es gibt einige Titel, die sehr viel Stoff zum Diskutieren bieten. Denn es ist Kritik an gesellschaftlichen, politischen und historischen Themen enthalten, andere Geschichten sind fast schon als philosophisch zu bezeichnen. Die Autoren spielen mit Symbolen und verpacken ihre punktgenauen Aussagen geschickt hinter Absurditäten, überspitzen Pointen, skurillen Momenten und rabenschwarzem Humor.

Fast jeder Satz dieses Buches ist zitierungswürdig, nicht nur der Inhalt überzeugt sondern auch die Wortwahl. >Hier< habe ich einige der ersten und letzten Sätze der Kurzgeschichten notiert. Besonders Christian von Aster erschafft mit Wortschöpfungen, Lautmalerei, Alliterationen und weiteren Spielereien aus dem Text ein literarisches Ereignis, das seinesgleichen sucht.

Einen Satz möchte ich aus diesem Buch trotzdem hervorheben, denn er beschreibt den Inhalt des Buches sehr treffend. Er stammt aus der letzten Geschichte, verfasst von Christian von Aster: "Kaum eine Lesebühne verfasst allmonatlich Kurzgeschichten, die Homer wie einen Zeichengeizer aussehen lassen, verhöhnt derart hingebungsvoll die Lesebühnen-FSK und stimuliert nachhaltig nonkonforme Subversivsynapsen. Und das alles ganz ohne Pandakostüme".

Die RÜCKKEHR INS STIRNHIRNHINTERZIMMER ist ein Buch, das man nicht lesen, sondern erleben muss. Das man selbst erfahren haben muss, um es zu begreifen.

Wertung: 9,5 von 10 rosafarbene Wartburgs

SaschaSalamander 30.07.2012, 08.54 | (0/0) Kommentare | PL

Man spricht deutsh

mansprichtdeutsch_1.jpgIch denke, zu diesem Film muss ich keine Rezension mehr schreiben, es wurde seit seinem Erscheinen 1988 mehr als genug darüber erzählt und geschrieben. Auch der Inhalt ist allseits bekannt: Familie Löffler verbringt ihren letzten Urlaubstag am Strand und muss sich mit allerlei Unbill herumschlagen, allen voran diesen seltsamen Italienern (ohne die der Italienurlaub wirklich eine tolle Sache sein könnte). Sie bewachen ihr Auto, verlieren sich in Tagträumen, haben Schwierigkeiten bei der Auswahl ihres Mittagstisches, und und und. Dabei wird kein Klische ausgelassen, sei es nun über die deutschen Touristen oder natürlich auch die Italiener (aus Sicht dieser deutschen Touristen).

Trotzdem - so bekannt der Film sein mag, meine eigenen Gedanken möchte ich gerne kurz zusammenfassen:

Schon als Kind hatte ich den Film gesehen, später ein zweites Mal, und jetzt viele Jahre später ein drittes Mal. Und es war ein äußerst faszinierendes Zeitdokument. Ich habe viel gelacht, aber auch oft peinlich berührt die Hände vor das Gesicht geschlagen. Oh ja, es ist bitterböse Satire, eben das, was Polt in Vollendung beherrscht. Dabei ist die Darstellung der Löfflers zwar leicht überzogen aber dennoch so überaus realistisch, dass einige der karikierten Personen den Humor dahinter vermutlich gar nicht als solchen erkennen.

Es war Nostalgie pur, diesen Film zu sehen! Und es gab viele Dinge, die mich unabhängig vom eigentlichen Humor schmunzeln ließen. Ach, die Mode damals, die Löwenmähne, die riesigen Kreolen, die pinkfarbenen Leggins, die buntgeblümten Badeanzüge, die riesigen dicken Hornbrillen, uaaah, der Film ist eine Beleidigung für das Auge heutzutage! Aber damals war es eben so üblich (ich möchte übrigens erwähnen, dass ich es damals als Jugendliche schon nicht hübsch fand, Mode hin oder her. Die 80er waren wirklich eine grauenvolle Zeit).

Und ich musste mehrfach hinsehen, bis ich erkannte: nein, da klebt kein Sand an den Beinen, sondern sie ist nicht rasiert! Okay, eigentlich egal, darf jeder handhaben wie er will. Aber es zeigt doch, wiesehr die Zeiten sich ändern, heute könnte ich mir keinen Film vorstellen, in dem eine Frau mit unrasierten Beinen am Strand zu sehen ist. Weiß man heute überhaupt noch, wie unrasierte Frauenbeine aussehen? Und nicht nur die Beine, auch auf der Oberlippe sah man sehr deutlich einen recht kräftigen Damenbart, der heute so nicht mehr gezeigt werden würde.

Es gibt eine Szene, in der Heinz-Rüdiger ein Loch buddelt und einen gefangenen Krebs hineinsetzt, immer wieder aufhebt, fallenlässt, mit Wasser bespritzt, ja sogar eine Schaufel Sand über ihn wirft. Das wäre heute wohl computeranimiert und am Ende des Abspanns stünde "keinem Tier wurde Schaden zugefügt usw".

Ach ja, und abgesehen davon gab es seeeehr viele Erinnerungen. Bayern 3 und Günther Jauch im Verkehrsfunk. Paulchen Panther Eis am Stil. Münztelefone. Autotelefon. Das alte Design der Bild-Zeitung. Die alten Postleitzahlen. Sofortbild - Kameras, die alten Cola-Flaschen. Und viele andere kleine Details mehr, der Film ist wie eine kleine Zeitreise, und das auf nur wenigen qm Strand"idylle" ;-)

SaschaSalamander 26.07.2012, 09.35 | (0/0) Kommentare | PL

Lord Skeffington Scatters Katzenärger

FAHR SINDRAM

Fahr Sindram ist Mangazeichnerin und Kinderbuchautorin, ihre Werke erscheinen im Butter and Cream Verlag, 2006 erschien das erste Werk LOSING NEVERLAND,  ein Manga, der sich neben einer packenden Handlung vor allem gegen Kinderpornographie ausspricht. Etwas, das ich allgemein sehr wichtig finde und das vor allem im Mangabereich ein ganz eigenes Thema ist, das hier viel zu selten angesprochen wird.


INHALT

LORD SKEFFINGTON SCATTERS - KATZENÄRGER ist ein niedliches Bilderbuch, das mit seinem Nonsens-Humor, den liebenswerten Charakteren und den herrlichen Bildern auch für Erwachsene ein unterhaltsames Lesevergnügen darstellt. Lord Skeffington Scatters ist ein junger Zombie, bleich und mit viel blauer Pomade im Haar, er lebt mit seinen fünfzehn (15!) Katzen zusammen. Und wie alle jungen Menschen Zombies wünscht er sich Freunde, doch das ist nicht leicht, wenn man bleich ist, blaue Haare hat und eigentlich tot ist. Während seiner Arbeit in der Eisdiele verliebt er sich in "das Mädchen", doch was soll er tun, um ihre Liebe zu gewinnen? Leider stellt er sich sehr ungeschickt an, und auch die fünfzehn (15!) Katzen sind ihm keine große Hilfe dabei.


SPRACHE, GENRE

Ach, ein wundervolles Bilderbuch, das ich gern gelesen habe und das mich durchweg begeisterte. Wie gesagt, sehr viele Elemente des Nonsens heitern die an sich knappe Handlung auf: viele Dinge werden wiederholt, etwa die fünfzehn (15!) Katzen, oder auch das Lieblingsfutter der Katzen, die blaue Pomade. Der Autor spielt mit der Bedeutung unterschiedlicher Worte, setzt Sprichwörter um zu realen Ereignissen, zieht unverhältnismäßige Vergleiche und jongliert mit den Sätzen, die Charaktere führen ungewöhnliche Dialoge, es gibt sehr schräge Aktionen und unlogische Schlussfolgerungen. Ein einfach zu lesender Text, an dem Leser aller Altersklassen ihre Freude haben, die Kinder eher aufgrund der witzigen Story, die Erwachsenen aufgrund des hintergründigen Humors. Ein paar Beispiele:

"Das Haus hatte er von seinem Großonkel geerbt. In seiner Familie wurde sowieso vieles weitervererbt. So hatte der gute Skeffington seine Füße von Großonel Milton und seine langen Unterarme von Urgroßvater John-Joe".

"Ich kannte einmal eine Katze, die so alberne Witze erzählte, dass sie sich eines schönen Tages einen Wolf lachte, den hatte sie dann ihr ganzes restliches Leben am Hals. Und das störte wirklich sehr, auch wenn er Vegetarier war!"

"Er war ziemlich wie Du und ich. Und wenn nicht wie Du, dann eben wie ich und Nachbars Gartentor."

"Er zitterte wie eine Klapperschlange und klapperte wie Espenlaub."


ZEICHNUNGEN

Text und Zeichnungen bilden hier eine kongeniale Einheit. Zwar kann jedes für sich stehen und überzeugen, doch in Verbindung ist es wirklich einzigartig. Immer wieder schweift beim Lesen der Blick auf die Bilder, man vergleicht das Bild mit dem Text und stellt fest, wie liebevoll einzelne Details umgesetzt wurden. Und die Bilder machen neugierig auf den Text. Auch blätterte ich immer wieder zwischen dem Text, den Bildern und dem Ende hin und her: denn am Ende des Buches werden alle fünfzehn (15!) Katzen namentlich und mit ihren Charaktereigenschaften vorgestellt. Da kommt ganz von selbst das Bedürfnis, auf jedem Bild zu zählen, ob wirklich alle Katzen zu sehen sind und wie sie sich diesmal gekleidet haben, ob man sie auch alle erkennt und zuordnen kann.

Einige kleine Bilder unterstreichen neben dem Text nur knapp dessen Aussage, andere bekommen eine eigene, komplett colorierte Seite, sogar doppelseitige Bilder sind zu finden. Die Textseiten sind zusätzlich mit einem hübschen Rahmen verziert, der in sich geschlossen ebenfalls viele kleine Motive beinhaltet und zum Entdecken einlädt.

Auf den Bildern gibt es auch unabhängig vom Text sehr viel zu entdecken, für Bücherwürmer dürften vor allem die herumliegenden Bücher oder die Bücherregale interessant sein, dort finden sich sehr viele spannende Titel, die zu entdecken einer Schatzsuche gleicht, jedesmal begleitet von einem kleinen freudigen Erfolgserlebnis. Unzählige süße Details verleiten zum Träumen, Lachen, Spaß haben und Entdecken. Alles gilt es zu betrachten von den Fotos an den Wänden hin zu Accessoires an der Kleidung oder kleine Geschichten, die auf den Bildern zusätzlich zur Handlung im Text erzählt werden. Ich werde das Buch noch sehr oft aufschlagen, um darin zu blättern.

Obwohl es um einen Zombiejungen geht, und obwohl es Gothic-Elemente enthält, zeigt Fahr Sindram mit diesen Bilder ganz wunderbar, dass Goth nicht immer Schwarz sein muss, sondern im Gegenteil auch kunterbunt, herzlich und verspielt sein kann. Sieüberschlägt sich regelrecht mit Farben, Formen und Mustern, und das Buch strotzt (zwischen den Zeilen, denn vordergründig geht es ja um einen toten Jungen und eine unglückliche Liebe) vor Lebensfreude, Glück und guter Laune, man kann gar nicht anders als nach dem Lesen glücklich zu sein.


MORAL

Die Moral des Buches gefällt mir, sie ist zwar klar und liegt für den Leser auf der Hand, dennoch kommt sie witzig daher, die Autoren nehmen sie aufs Korn und machen auch hieraus einen eigenen Scherz. Noch nie wurde eine Moral so süß verpackt! Überhaupt ist das Ende der Geschichte wirklich gelungen. Es ist ein Happy End, wenn auch anders als erwartet, man kann sich mit den Charakteren freuen. Und auch, wenn das Buch abgeschlossen ist, lädt das Ende die Kinder ein, gemeinsam mit den Eltern neue Abenteuer mit Lord Skeffington zu erfinden. Einen Freund wie den kleinen Zombie und seine fünfzehn (15!) Katzen wünscht man sich gerne


FAZIT

Unbedingt kaufen! Was auch immer ich hier alles geschrieben habe, man muss es sich selbst ansehen. Wer das, was ich hier in der Rezi angeschnitten habe, auch nur ansatzweise interessant fand, der wird von Skeffington begeistert sein! :-)

Wertung: 100 von 100 Rock und Rollende Kellermonster


SaschaSalamander 09.07.2012, 08.56 | (0/0) Kommentare | PL

Jo Raketenpo

tulim_jo_1.jpgJonathan Vogel war schon als Kind ein "Knaller", und die Einschulung wird so lange als möglich hinausgezögert. Erst ein bitterböser Brief des Schuldirektors stellt die Eltern vor die Entscheidung. Da findet Jonathans Mutter die Anzeige des geheimnisvollen Arztes Dr. Flatatul Bum. Dieser findet heraus, dass der Kleine an Cackao Prudentium leidet, einer Allergie gegen Klugsch***, und wannimmer er dieser ausgesetzt ist, wandelt er sie um in heiße Luft. Na, da ist die Schule genau der falsche Ort! Aber mit Hilfe der kleinen grünen Froschpillen bekommt er sein Problem in den Griff. Die Schule ist schrecklich, Dr. Eisenbart, Herr Würgl, Frau Gift und Galle machen ihm das Leben zur Hölle, und die Klassenkameraden sind auch gemein. Bis eines Tages Charlotte, Scha Scha Zinsel genannt, in seine Klasse kommt. Auch sie hat ein luftiges Geheimnis, und bald erleben die beiden das Abenteuer ihres Lebens.

Ob das Buch pädagogisch wertvoll ist, darüber kann man streiten. Thema Außenseiter, Thema "Du bist gut so wie Du bist", aber das könnte man natürlich auch anders verpacken. Aber es ist auf jeden Fall lustig, und ich kann mir vorstellen, dass Kinder aus dem Lachen nicht mehr herauskommen, auch ich als Erwachsener musste sehr oft lachen, wenn vermutlich auch über andere Dinge. Und gemeinsames Lachen ist oft hilfreicher als alle Pädagogik der Welt ;-)

JO RAKETENPO ist klein und unscheinbar, man leidet mit ihm mit. Die Schüler gehen ihm aus dem Weg, um ihn zu schneiden. Scha Scha hat das gleiche Problem, doch sie ist stolz und selbstbewusst, sie ist ein Powermädel. Ihr gehen die Schüler aus dem Weg, um ihr ehrfurchtsvoll Platz zu machen. Die beiden bieten wundervolle Identifikationsfiguren für Kids, zwei grundverschiedene Charaktere, ausgestattet mit liebenswerten Eigenschaften und doch nicht perfekt. Bei den Erwachsenen gibt es die Guten und die Bösen, klar definiert. Bei der überzogenen Darstellung der Bösen musste ich stellenweise schon an Roald Dahl denken, Frau Gift und Galle sowie der böse Lehrer Würgl erinnerten in ihrer Grausamkeit doch irgendwie an Frau Knüppelkuh und Co, also auf eine Weise überzeichnet, dass Kinder keine Angst vor ihnen haben müssen aber trotzdem so richtig wütend werden dürfen auf diese Menschen.

Das Buch ist weder realistisch noch ernsthaft, es gibt absurde Situationen und völlig schräge Momente, die jeglicher Logik entbehren, das Buch ist ein Riesenspaß.

Nett fand ich die Formulierungen und die Sprache, Pinkus Tulim jongliert mit Worten, er hat sichtlich Spaß beim Schreiben gehabt, das spürt man. Da ich es nur gehört, nicht gelesen habe, kann ich leider nicht nachschlagen, und während des Hörens hatte ich keine Gelegenheit zu notieren. Aber selbst ohne darauf zu achten, fällt einem schnell auf, wie hier mit den Worten gespielt wird. Auch gibt es sehr viele Wortneuschöpfungen, teilweise vermutlich zeilenlang, ein herrlicher Spaß. Die Metaphern sind ebenfalls gelungen. Jonathan pupst als Kind so stark, dass den Enten die Schnäbel abfallen. Jemand ist erstaunt und öffnet den Mund so weit, dass eine Ratte mitsamt ihrem Reisekoffer hindurchgepasst hätte. Und eine gemeine Fangfragte fragte jemand "mit einem Angelhaken als Fragezeichen". Stilmittel der Nonsensliteratur, wie ich sie liebe :-)

Einzige Schwäche des Buches finde ich den Aufbau. Zwar ist der Anfang nett, aber er fesselt nicht wirklich. Es ist nicht klar, worauf es hinausgeht, wirklich spannend wird es erst ab dem Besuch bei Dr. Flatatul Bum und dem Schuleintritt, davor zieht es sich doch recht in die Länge. Wäre nicht der Sprecher gewesen, hätte ich das Hörbuch vermutlich bald abgebrochen. Im Nachhinein bin ich froh, dass ich es weitergehört habe. Nur der Spannungsbogen hat mir gefehlt: es gab keine konkrete Frage, auf deren Auflösung man bangte (die meisten Bücher haben doch eine Kernfrage, etwa "wird es ihm gelingen usw", "wird er seinen Traum verwirklichen und eines Tages ..."), sondern vielmehr eine Aneinanderreihung der Erlebnisse Jonathans von seiner Babyzeit bis hin in die Schulzeit. Da die Handlung jedoch voranschreitet und nicht nur erzählt, fragte ich mich immer wieder, wann denn nun der Knackpunkt käme. Aber gut, es ist ein Kinderbuch, und ich bin sicher, dass Kinder nicht nach solchen Dingen fragen ;-)

Christoph Maria Herbst (Stromberg) ist ein grandioser Sprecher. Inzwischen neige ich fast dazu, ihn neben Stefan Kaminski und Rufus Beck zu stellen mit seiner wandelbaren Stimme. Er quietscht, knarrt, keift, bellt, krakeelt, pupst, piepst, donnert, er spielt virtuos mit seiner Stimme wie ein Musiker auf seinem Instrument. Gelegentlich untermalt von einem eingespielten Geräusch und eingespielten Musikstücken, was gut zur CD passte.

Das Buch habe ich nicht gelesen, aber ein Blick in die Leseprobe zeigt mir, dass die Bilder wirklich witzig sind und gut dazu passen. Es ist also gar nicht leicht, sich für das Buch oder die CD zu entscheiden. Es ist einer der Titel, wo man vielleicht sogar überlegen sollte, sich beides zuzulegen.

JO RAKETENPO ist ein urkomisches Kinderbuch, das den Großen genauso Spaß macht wie den Kleinen. Ganz große Empfehlung :-)

7,8 von 10 Treppenstufen

SaschaSalamander 05.07.2012, 08.34 | (1/1) Kommentare (RSS) | PL

MindNapping 09 - Montana

mindnapping09_1.jpgMINDNAPPING ist eine Hörspielreihe des Labels Audioanarchie, die ein abgeschlossenen Einzelfolgen spannende Geschichten erzählt, häufig getragen vom Wahnsinn der Protagonisten oder dem Mindfuck der Story. Es gab schwächere Folgen, aber auch starke Episoden wie >DOPAMIN<. Montana hat mich wieder einmal sehr begeistert, deswegen möchte ich kurz ein paar Gedanken mit Euch teilen.

Die Handlung ist schwer zu beschreiben, da sie auf mehreren Ebenen spielt. Rahmenhandlung bildet ein Drehbuchautor, der tot in seiner Wohnung aufgefunden wird. Sein letzter Wille: sein Skript muss verfilmt werden, sonst geht sein Geld an die Blackfeet - Indianer. Beim Filmdreh wird schnell klar, dass es mit dem Skript etwas Besonderes auf sich hat, und die Realität beginnt mit der Fiktion zu verschmelzen.

Ein wiederkehrendes Thema des Hörspieles ist die Sebstreferenzialität, einerseits spielerisch erklärt und in witzigen Geschichten oder Paradoxa, andererseits in der Handlung selbst. So handelt der Film von einem Drehbuchautor, der einen Film dreht, in welchem es usw. Nicht umsonst ist auf dem Cover ein >Möbius-Band< abgebildet.

Selten höre oder lese ich etwas zweimal, und noch seltener beginne ich direkt nach dem Ende erneut von vorne. In diesem Fall habe ich es getan, ansonsten wäre es kaum möglich gewesen, die Geschichte zu erfassen. Mit dem Wissen um spätere Entwicklungen und das Ende war das erneute Hören ein komplett anderes Hörerlebnis, das sich absolut lohnte und mir sogar noch besser gefiel als beim ersten Mal. Nein, nebenbei darf man MONTANA auf keinen Fall hören, wenn man es verstehen möchte!

Die Sprecher agieren gekonnt, die Hintergrundmusik vermittelt eine sehr schöne Atmosphäre passend zum Westernsetting des gedrehten Filmes, ich konnte tief in die Welt abtauchen. Mich darin zu verlieren war erst beim zweiten Mal möglich, da anfangs doch zuviele offene Fragen waren und ich Schwierigkeiten hatte, die drei bzw vier Erzählebenen auseinanderzuzalten.

Eine rundum gelungene Folge, die man auch unabhängig vom Rest der Reihe sehr gut hören kann. Wer Hörspiele und Mindfuck liebt, der kommt an MONTANA nicht vorbei!

10 Luchse - 0,9 Kojoten = 9,1 ungleiche Brüder

SaschaSalamander 03.07.2012, 08.27 | (2/2) Kommentare (RSS) | PL

Beim ersten Sonnenstrahl 02

minden_sonnenstrahl02_1.JPGZum Inhalt der Geschichte möchte ich nichts mehr schreiben, es handelt sich hier um die Fortsetzung des dreigeteilten Romanes von Inka Loreen Minden, der bald als komplettes Taschenbuch erscheinen wird. Meine Eindrücke über den ersten Teil kann man >hier< nachlesen:

Der erste Teil dient vor allem der Einführung der Charaktere, dem zärtlichen Einstieg in die Liebesgeschichte und dem Aufzeigen der Verwicklungen. Im dritten Teil werden alle Fäden zusammenlaufen, es wird vermutlich einen Showdown geben und - das ist gewiss - ein Happy End. Worauf es hier im zweiten Teil nun ankommt ist die Überleitung von einem zum anderen. Hier besteht in der Regel die größte Gefahr, unnötige Längen einzubauen oder vor lauter Action die Charakterentwicklung zu vergessen. Dieser Fehler ist Inka nicht passiert: Sie hat es wieder einmal wunderbar geschafft, die Elemente aus Handlung, Erotik und Charakteren perfekt auszubalancieren. Keine Längen, keine überladene Story, und gleichzeitig wachsen dem Leser die beiden Protagonisten immer mehr ans Herz. Obwohl der zweite Teil etwas länger ist, empfand ich ihn als ungleich kürzer, konnte mich nur schwer von Zahar und David trennen. Der zweite Teil endet wie von der Autorin angekündigt mit einem heftigen Cliffhanger, aber ich muss zugeben, dass mich diesmal nicht sonderlich ärgert. Dafür weiß ich einfach zu gut, dass alles eine glückliche Wende nehmen wird ;-)

Was mir an der Erotik in diesem Buch besonders gefällt, das ist die Sanftheit. Worte wie "knisternd, prickelnd, heiß" und Co wären hier unangebracht. Ja, natürlich ist es leidenschaftlich. Doch was hier überwiegt sind zwei Seelen, die sich gefunden haben. Der Roman vermittelt das Gefühl des Nach-Hause-Kommens, die angenehme Wärme von Vertrauen und Geborgenheit. Statt zu erklären ein kurzes Zitat: "Sie sprachen kein Wort, endlose Minuten lang, sondern hielten sich an den Händen. Zahar kuschelte sich an Davids Schulter und deckte ihn mit einer Schwinge zu."

Der historische Aspekt ist wie schon im ersten Teil sehr gut recherchiert, und scheinbar  nebenbei fließen spannende Details ein. Für die Geschichte selbst unwichtig, doch genau das verleiht dem Text Leben und Fülle, lässt das Bild der damaligen Zeit greifbar werden.

Der zweite Teil ist wunderschön. Kein Sektprickeln, kein elektrisches Knistern. David und Zahars Liebe ist eine sinnliche, süße, wärmende Tasse Kakao ... 

SaschaSalamander 29.06.2012, 09.20 | (1/0) Kommentare (RSS) | PL

Kämpfe für Dein Leben

graf_kaempfe_1.jpgAUTOREN GRAF UND HIMMELRATH

>Charly Graf< wurde 1951 in Mannheim geboren und wuchs als uneheliches Kind eines US-Soldaten und seiner alleinerziehenden Mutter auf. Von Beginn an war sein Leben geprägt von Ausgrenzung, Gewalterfahrung und Angst, er lernte im wahren Sinne des Wortes "sich durchzuboxen" und auf diese Weise Anerkennung zu gewinnen. Schnell wurde er von profitgierigen Trainern verheizt, rutschte ab in die Kriminalität, rappelte sich wieder auf, stürzte erneut, sein Leben eine einzige Achterbahnfahrt.

>Armin Himmelrath<, Jahrgang 1967, studierte Sozialwissenschaft und Germanistik, arbeitet unter anderem als freier Journalist und erarbeitete nun gemeinsam mit Charly Graf dessen Biographie.


AUFBAU, SPRACHE

Das Buch steigt ein mit einem Ausschnitt aus Grafs aktueller Arbeit mit Kindern, wirft den Leser mitten hinein. Erst danach beginnt die eigentliche Biographie und geht voran bis in die Gegenwart. Ein sehr schöner Rahmen, durch den KÄMPFE FÜR DEIN LEBEN an Struktur gewinnt und die spannende Frage aufwirkt, welche Schritte ihn von damals bis nach heute führten. Während ich bei Biographien auch schon eine recht chaotische Schilderung erleben musste, ist dieses Buch dagegen klar chronologisch aufgebaut. Durch sein ereignisreiches Leben enthält KÄMPFE FÜR DEIN LEBEN sogar einen Spannungsbogen, was in diesem Genre ungewöhnlich ist. Wer bisher nichts von Charly Graf wusste, bekommt eine Geschichte geboten, die kein Autor besser hätte erfinden können. Doch auch für Freunde des Boxsports ist das Buch spannend, es bietet Einblicke in die Welt hinter dem Profiboxer, hinter die Kulissen des Sports.

Dem Schreibstil ist leicht zu folgen, Graf und Himmelrath spielen sich gegenseitig gekonnt den Ball zu. Graf erzählt aus seinem Leben, schildert seine Eindrücke und seine Sicht. Himmelrath (seine Texte heben sich kursiv von denen des Boxers ab) schildert dagegen sachlich die offizielle Seite: wie nahmen die Medien diese einzelnen Stationen wahr. Dadurch bildet sich ein interessanter Kontrast aus dem inneren Erleben und der äußeren Darstellung; sehr gut wird deutlich, wie leicht die Presse einen Sportler nach oben pushen, ihn jedoch auch stürzen kann. Es ist bedrückend zu lesen, wiesehr diese Berichterstattung Graf bedrückte, seinen Lebensweg dadurch auch beeinflusste.

Obgleich Himmelrath Graf unter die Arme griff, mit ihm bzw für ihn schrieb, ist dennoch ein deutlicher Unterschied zwischen der Ich-Erzählung des Boxers und der Schilderung des Journalisten zu erkennen. Grafs Anteil enthält eine deutlich einfachere Sprache, kommt ohne Fachbegriffe aus (erfreulicherweise auch ohne Fachbegriffe des Boxsports, was für Leser wie mich ideal ist), driftet niemals ins Umgangssprachliche, lässt aber dennoch seinen eigenen Stil erkennen.


CHARLY GRAFS LEBEN

Graf berichtet schnörkellos und direkt. Er beschönigt nichts, er verlangt kein Mitleid, kein Verständnis. Er entschuldigt sich auch nicht, schreibt ohne Reue. Sondern er nimmt die Dinge so an, wie sie waren. Er kommt aus der untersten Gesellschaftsschicht, erlebte Diskriminierung, Ausgrenzung. Er klagt niemanden an, obwohl er allen Grund dazu hätte. Die Frankfurter Rundschau schrieb 1971 von seinem "gefährlichen Hang zum Halbwelt-Milieu" und seiner "Trainingsfaulheit", rückblickend meint Graf "damals fand ich, dass die Einschätzung eine bodenlose Frechheit war. Heute weiß ich, da war was Wahres dran".

Bewegt hat mich insbesondere, wie er ohne Scham von seinen Ängsten berichtet. Er wurde von den Liebhabern seiner Mutter geschlagen, einmal sogar hatte er solche Angst vor ihrem Geliebten, dass er die Mutter und den ihm fremden Mann nicht in die Wohnung ließ. Seine Mutter drohte ihm an, dass sie sich unter den Zug legen würde, wenn er die Tür nicht öffnete. Dann ging sie und kam nicht wieder, er suchte sie stundenlang an den Gleisen, bis sie später erst nach Hause kam. Eine kleine Episode, die keiner weiteren Worte bedarf und nichts rechtfertigt, nichts entschuldigt aber Vieles erklärt.


ACHTERBAHN

Geschlagen von den Liebhabern der Mutter, verheizt von egoistischen Trainern, Anerkennung erlebt im Rotlichtmilieu, musste er ins Gefängnis. Nachdem er eine Meuterei anzettelte, wurde er nach Stammheim verlegt, ein Hochsicherheitsgefängnis, wo auch der RAF-Terrorist Peter-Jürgen Boock inhaftiert war. Zwei Menschen, so verschieden wie zwei Menschen nur sein können. Graf trainiert Boocks Körper, und Boock gelingt, was kein Sozialarbeiter bisher vermochte: er zeigt ihm auf, wie wichtig es ist, nicht den Körper sondern auch den Geist zu trainieren. Bildung ist wahre Freiheit, und so beginnt der Boxer zu lesen, von Dostojewski über Faulkner und Hesse.

Doch der Stempel leuchtet auf seiner Stirn: Neger, uneheliches Kind, Benz-Baracken, Zuhälter, Krimineller, Unterschichtler. Es ist faszinierend, auf welch unrechte aber dennoch clevere Weise er dagegen ankämpfte, sich die Möglichkeit erschlicht, aus dem Gefängnis heraus zu trainieren und dann sogar einen Boxkampf zu initiieren. Ein Ding der Unmöglichkeit, doch es gelang ihm, und sosehr ich den Kopf schüttle über die Unverfrorenheit und die Lüge, sosehr bewundere ich insgeheim den Wagemut und die Dreistigkeit dieses Unterfangens. Es ist teilweise absurd zu lesen, mit welchen Mitteln er die Zeit im Gefängnis verbrachte, wie er Dinge zu seinem VOrteil drehte und andere für sich arbeiten ließ. Da wird ein Bordell schnell mal als Hotel deklariert, und ein Inhaftierter sitzt an der Seite des Gefängnisdirektors und trifft Entscheidungen über andere Mitgefangene. Wäre es ein Roman, so würde man ihn abstrafen als unrealistisch, an den Haaren herbeigezogen und völlig hanebüchen, doch was Graf schreibt, ist wahr, und es ist kaum zu glauben.


ARBEIT MIT KINDERN

Charly Graf ist auf jeden Fall ein Sympathieträger, und dieses Charisma ist im Buch deutlich zu spüren. Indem er sich selbst nicht schont, kommt er an Kinder heran, die von Lehrern und Sozialpädagogen bereits aufgegeben wurden. Er versteht die Ängste der Kinder, wie es andere Erwachsene nicht können. Sie fassen vertrauen zu dem Mann, der ohne Scham von seiner eigenen Angst erzählt und davon, dass Gewalt und Kriminalität lediglich Ausdruck der eigenen Hilflosigkeit darstellen. In der Talkshow des NDR sagt er "Aggressivität kommt von Lebensängsten". Um die Aggressivität abzubauen hilft also nicht die "Sozialpädagogenscheiße" (wie er es drastisch in seinem Buch formuliert, was mich schmunzeln ließ. So ungern ich es zugebe, aber als Sozialpädagoge muss ich ihm dennoch zustimmen), sondern die Bewältigung dieser Ängste. Sein Boxtraining ist mehr als nur ein schlagender Sport, es ist ein Wegweiser zu selbstbestimmtem Denken und Handeln, zu einem Leben in Freiheit ohne Angst.

Wäre KÄMPFE FÜR DEIN LEBEN ein Roman, so müsste ich ihm bescheinigen, dass dem Autor eine herausragende Charakterentwicklung voller Intensität und Komplexität gelungen ist. Da es eine Biographie ist, neige ich mein Haupt vor Charly Graf und zolle ihm meinen Respekt. Einmal dafür, wie er vom kriminellen Underdog den Schritt in ein neues Leben wagte, das dennoch geprägt ist von Enttäuschung, Einsamkeit und Armut, aber erfüllt von Stolz und Selbstbewusstsein. Aber vor allem dafür, dass er diese Erfahrungen nun weitergibt an Kinder, die in ihm ein Vorbild sehen. An Kinder, die durch ihn nun eine neue Chance bekommen.

Graf erzählt in knappen Sätzen von einzelnen Kindern, deren Lebenslauf schrecklich ist. "Es gibt Biographien, da habe ich keine Antwort". Wenn auch nur einem dieser Kinder geholfen werden kann, hat er ein Wunder gewirkt, und einige Male ist es ihm bereits gelungen.


FAZIT

KÄMPFE FÜR DEIN LEBEN ist ein Buch, das jeder Leser anders wahrnehmen wird. Biographie eines Sportlers. Das Märchen vom Underdog zum Helden. Die Zeit in Stammheim und die Begegnung mit Broock. Die Kriminalität im Rotlichtmilieu und der Ausstieg aus der Szene. Oder einfach nur ein packender Lebenslauf. Doch egal, aus welchem Grund man das Buch liest - es lässt niemanden kalt.

SaschaSalamander 28.06.2012, 09.09 | (0/0) Kommentare | PL

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