SaschaSalamander

Ausgewählter Beitrag

Das falsche Geschlecht

Paul und Louise sind ein glückliches Paar. Zumindest solange, bis Paul an die Front gerufen wird. Eines Tages verletzt er sich, zögert die Krankheit hinaus, verweigert einen Befehl und flieht. Als Deserteur droht ihm die Todesstrafe, also hilft seine Frau ihm, ein neues Leben als Suzanne aufzubauen: Paul trägt Kleider, lässt sich epilieren, auch körperlich passt er sein Erscheinen nach und nach immer mehr dem einer Frau an. Auf diese Weise kann er endlich wieder auf die Straße, eine Arbeit annehmen, und er geht in dieser Rolle auf. Doch das Trauma des Krieges ist belastend für Paul und die Beziehung, das Drama spitzt sich immer mehr zu ... 




VORAB

Die Autorin Chloe Cruchaudet ist mir bisher nicht bekannt. Bevor ich einfach nur abschreibe, was ich über sie gelesen habe, verweise ich auf die Autorenbeschreibung des Verlages: >Chloe Cruchaudet<.

Die Erzählung basiert auf der wahren Geschichte von Paul und Louise Grappe. Auch hierzu findet man auf den deutschen Internetseiten wenig. Ein interessanter Artikel erschien im >Spiegel<, wo man Näheres über das Leben des ungewöhnlichen Paares erfährt. Der Comic weist dabei einige Abweichungen und Auslassungen auf, die ich jedoch als sinnvoll erachte, da diese die Geschichte unnötig strecken oder verkomplizieren würden. Doch Suzanne war eine schillernde Persönlichkeit (so wäre zB ihre Zeit als Fallschirmspringerin zu erwähnen, die den Rahmen des Comics jedoch gesprengt hätte). Cruchaudets Werk regt dazu an, selbst zu recherchieren und mehr über Suzanne / Paul zu erfahren.


ZEICHNUNGEN

Der Comic hat keine keine klar abgegrenzte Panel-Einteilung. Dennoch sind die Bilder strukturiert verteilt, je nach Situation zwei, drei oder sechs pro Seite, manchmal auch ganzseitig oder gar auf einer Doppelseite. Der Hintergrund zwischen den Bildern ist weiß, im deutlichen Kontrast dazu die Bilder selbst in Grau und Schwarz. Cruchaudet zeichnet recht weich und mit skizzenartigem Strich, was die Verletzlichkeit, die Unzulänglichkeit der Charaktere optisch unterstreicht. In einigen dramatischen Szenen wird der Strich dicker, härter, die Konturen konstrastreicher. Man sieht, dass die Zeichnerin sich intensiv mit verschiedenen Techniken und Stilmitteln auseinandergesetzt hat, um die jeweilige Stimmung optimal zu transportieren.

Das Grau und Schwarz wird selten durchbrochen von roter Farbe. Manchmal als freudiger Farbklecks, verspielt und locker. Manchmal als optische Betonung des Schreckens, etwa an der Front oder am tragischen Höhepunkt der Beziehung. Und manches Mal auch, um die neue weibliche Identität Pauls zu betonen, der sich nun voller Farbe und Lebensdrang die Welt zurückerobert. 

Obwohl es wenig Farben und Details gibt, obwohl die Panels klar strukturiert sind und der Comic mehr über Bilder als über Text erzählt, kann man ihn nicht einfach überfliegen. Das Lesen dauert eine gewisse Zeit, denn die Eindrücke müssen verarbeitet werden. Um den Inhalt zu erfassen, ist es oft wichtig, sich die Bilder und den Ablauf sehr genau anzusehen. Außerdem hat die Geschichte ihr eigenes Tempo: obwohl ich normalerweise ein Schnell-Leser bin, wurde ich beim Lesen ruhiger, ließ mich von dem ruhigen Fluss der Erzählung treiben, sah mir alles genau an, merkte nur anhand kurzer Störungen von außen (zB Türklingeln, Katze usw), wiesehr ich abgetaucht war in die schillernde Welt des Paris in den zwanziger Jahren. 


ERZÄHLWEISE / AUFBAU

Die Handlung beginnt mit einem Richter, welcher sich auf die Verhandlung vorbereitet und dann die beiden Protagonisten vorstellt: "Meine Damen und Herren, lassen Sie uns beginnen. Wir sind hier, um den Fall Louise Landy und Paul Grappe zu verhandeln. Besagte Dame ist am 10. März 1892 geboren, Volksschulabschluss mit 13 Jahren. Besagter Herr wurde am 30. August 1891 geboren, mit 15 Jahren machte er seinen Volksschulabschluss". Geschickt, denn so weiß der Leser, um wen es geht, wann die Handlung spielt. 

Dann baut sich nach und nach die Handlung auf. Der Leser begleitet die beiden bei ihren Vorbereitungen auf das erste Date, beim Abschied an die Front, im Krankenhaus, im Versteck der Wohnung und auf dem weiteren Weg. Alles wird knallhart, direkt und ungeschönt gezeigt. Ob die grausigen Schrecken an der Front, als einem Kameraden der Kopf weggeschossen wird, als mangels Toilette im Schützengraben andere Lösungen gefunden werden müssen, als man auf der Suche nach Wasser auch vor den Vorräten der Toten nicht zurückschreckt. Auch die Sprache ist angepasst und manches mal derb. Sexuell nimmt die Autorin ebenfalls kein Blatt vor den Mund, es ist ein relevanter Teil der Beziehung und von Pauls / Suzannes Identität.

Trotz der belastenden Situation, trotz der Kriegstraumata und persönlichen Dramen gibt es immer wieder Momente zum Schmunzeln. Ein Augenzwinkern, sehr viel Herzlichkeit und Wärme lockern die Handlung auf. Ohne dies wäre die Erzählung in ihrer emotionalen Härte auch kaum zu ertragen. So jedoch liest es sich zwar nicht entspannt aber flüssig, liegt nicht unverdaulich im Magen sondern ist in sich rund und erträglich. Es geht am Ende nicht nur darum, die Schrecken des Kriegs und das Drama der belasteten Beziehung darzustellen, sondern auch die faszinierende Dynamik einzufangen, mit der Suzanne ihre Wandlung vollzieht, diese innerhalb der Gesellschaft und der Beziehung auslebt, bis sie sich ganz in ihrer Rolle verliert. 


CHARAKTERE / THEMA

Das Hauptaugenmerk liegt auf Paul/Suzanne, dem/der die Autorin auch bei Alleingängen folgt. Louise ist meist nur innerhalb der Beziehung anzutreffen. Dennoch gelingt es Cruchaudet, auch ihre Sichtweise darzustellen. Paul verliert sich in der Rolle der Suzanne, nutzt Louise als Vorbild und überflügelt sie bald, bis Louise nur noch in Suzannes Schatten steht und völlig die Kontrolle verliert. Suzanne will ausschweifend leben, Louise will für sie beide Sorgen und das Geheimnis wahren. Immer öfter kommt es zu Konflikten, immer öfter will Suzanne das Ruder in die Hand nehmen und sie beide durch Unachtsamkeit gefährden. 

Paul wurde so eindringlich skizziert, dass kein Leser dieses Werk jemals vergessen wird. Sein innerer Zwiespalt zeigt sich zum Beispiel in inneren Monologen, geführt von Suzanne und Paul, die sich gegenüberstehen. Von düsteren Bildern, in denen er sich vorstellt wieder im Schützengraben zu sitzen, neben sich sein kopfloser Kamerad. Positive Momente erlebt Paul, als er in Gestalt von Suzanne den Schritt ins Leben wagt: erst nur eine leichte Epilation, dann werden die Nägel gepflegt, die ersten Ohrringe getragen, typische Bewegungsmuster geübt, in vielen kleinen Schritten löst sich Paul von seinen Ängsten, stellt sich neuen Herausforderungen. Als Deserteure nach 10 Jahren endlich rehabilitiert werden, gerät er in eine tiefe Identitäskrise, und nachvollziehbar wird gezeigt, wie er immer mehr dem Alkohol verfällt und sich seinen Aggressionen hingibt. 

So rücksichtslos er sich gegenüber Louise verhält, so egoistisch sein Handeln sein mag - der Leser kann Paul/Suzanne keinen Vorwurf machen - zu gut ist dargestellt, wie Paul nicht nur in seiner Rolle aufgeht sondern sich auch darin verliert. Er wird von Zweifeln geplagt: wer ist er, was gefällt ihm, was ist Paul, was ist Suzanne. Er erwacht als Paul mit lackierten Nägeln, er tritt auf als Suzanne und zeigt männlich dominante Verhaltensweisen. Er beginnt zu halluzinieren, dazu kommen Flashbacks und das Kriegstrauma, er spricht mit seinen toten Kameraden, mit einem Pferdemensch. Der Leser steigt von Seite zu Seite immer tiefer hinab in die Abgründe. Die Abgründe der menschlichen Psyche, des Krieges, einer Beziehung, einer Identitäskrise. 

Louise dagegen hat von Beginn an die Sympathie der Leser. Sie sorgt sich um ihren Paul und kümmert sich um alles, selbst wenn er sie grob behandelt oder aufgrund seiner Traumata die Beherrschung verliert, sie gibt nie auf. Still erträgt sie seine Wutanfälle, frisst ihre Enttäuschung über die Entfremdung in sich hinein. Sie ist bereit, so viel für ihn zu tragen, sich für ihn aufzuopfern, steht in allen Belangen hinter ihn. Mag sie auch wie die brave Frau an seiner Seite wirken, hin und hergerissen zwischen ihrer Abneigung und Fürsorge, so ist sie die eindeutige stärkere Persönlichkeit, welche das Zusammenleben überhaupt ermöglicht und ihrem Mann immer wieder das Leben rettet. 

Es genügen nur wenige Bilder, nur kurze Sätze, um ein eindringliches Bild dieser ungewöhnlichen Beziehung zu erschaffen. Ein Blick, eine zitternde Hand, ein wütend in die Ecke geworfener Zinnsoldat, eine sanfte Berührung, das sagt mehr als alle Erklärungen es könnten und skizziert die Beziehung, sodass jeder Leser es nicht nur sieht sondern auch selbst erfühlt. 


FAZIT

>DAS FALSCHE GESCHLECHT< ist ein Comic, den man liest und nie wieder vergisst. Nicht nur aufgrund des realen Hintergrundes, sondern auch aufgrund der eindringlichen Erzählweise und des ebenso direkt wie auch respektvoll umgesetzten Themas.

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Ergänzend noch ein >Artikel der taz<, in welchem man ein paar Hintergründe erfährt, wie die Autorin für das Werk recherchierte. Auch ein paar zusätzliche Informationen über den realen Hintergrund sind in dem Artikel enthalten.

SaschaSalamander 21.11.2016, 08.39

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