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Ausgewählter Beitrag
Die Pille und ich
Klappentext: Clint Witchalls nahm an einer Studie teil, um die "Pille für den Mann" zu testen - und wurde zu einem hormongebeutelten Gefühlswrack. In seinem Tagebuch erzählt der Pionier für die Gleichberechtigung, was ihm während der einjährigen Testphase widerfahren ist - und warum er nie wieder über PMS lästern wird.
Ich ordne das Buch unter "queer" ein. Nicht, weil es um irgend etwas mit LGBTIQ* geht. Sondern weil es recht gut zeigt, was es ein Erfahrungsbericht ist, was Hormone beim Menschen bewirken können. Es ist eben doch ein typisches Mann-Frau Ding voller Klischees, die aber zum Teil tatsächlich ihre Berechtigung haben. Und wer Hormone nimmt (aus Mangel, als Transgender oä), kann ebenfalls ein Lied davon singen. Umso spannender fand ich es in diesem Buch, dieses Thema aus Sicht eines erwachsenen, gesundenCis-Mannes zu lesen.
Der Schreibstil ist recht lax, man kann getrost darüber hinwegfliegen und nebenbei ein paar Seiten lesen, wenig anspruchsvoll oder anstrengend. Dafür aber sehr unterhaltsam und in einem angenehmen Ton. Der Autor nimmt kein Blatt vor den Mund und schreibt recht offen über die teils sehr intimen Untersuchungen. Er schreibt offen, aber nicht ungeniert, die Scham ist ihm teilweise anzumerken, doch er reagiert mit Humor und direkter Konfrontation, was für den Leser angenehm und unterhaltsam ist.
Er benennt viele griffige Alltagsbeispiele, an denen seine Stimmungsschwankungen sichtbar werden. Auch zeigt er, wie sich das auf seine Beziehung, seinen Beruf, seine Rolle als Vater auswirkt und welche teils drastischen Konsequenzen dies für ihn hat. Sein Selbstmitleid geht mir als Leser stellenweise gewaltig auf den Keks. Aber ich bin ehrlich: man merkt ihm an, dass er sich selbst nervt, und ich konnte nur immer wieder nicken, denn diese Phasen kennt wohl jeder, der damit zu kämpfen hat, und das "Genervtsein" kam wohl weniger von seinem Schreiben als vielmehr davon, selbst in solch einer Situation zu stecken. Er macht ziemlich deutlich, was es bedeutet, wenn die Hormone Achterbahn fahren.
C Witchalls: Die Pille und ich, Hamburg 2007. S. 61: "Ich behaupte nicht, Hormone seien Schicksal, aber man muss schon eine starke Persönlichkeit haben, um gegen diesen Strom anzuschwimmen." Diesen Satz möchte ich fett markieren und jedem an die Stirn pappen. Besser hätte der Autor es wohl nicht formulieren können.
Schwierig für ihn ist vor allem, dass alles, was ihm widerfährt, auch andere Gründe haben könnte bzw die Gründe nicht genau definierbar sind. Liegt es nun am erhöhten (nach Beginn der Spritze) oder am sinkenden Testospiegel (gegen Ende der Spritze), liegt es am erhöhten Progesteronspiegel, oder hat sein Körper ein Zuviel an Testosteron in Östrogen gewandelt? Leidet er unter einer endogenen Depression, oder ist dies tatsächlich den Hormonen geschuldet? Erst lange nach der Studie erfährt er, dass er einer der Patienten war, die das Präparat erhielten, jedoch kein Placebo (ist kein Spoiler, denn sonst hätte er ja das Buch nicht geschrieben).
Er beschreibt die Nebenwirkungen sehr griffig und verständlich. Körperliche Dinge wie Nachtschweiß, Herzrhythmusstörungen, Muskulatur, Sportlichkeit, Schlafstörungen. Stellenweise wird er tatsächlich unsicher, unkonzentriert, schwermütig, schlapp, weint viel, beginnt Dinge persönlich zu nehmen und fühlt sich überfordert von all den Aufgaben. In anderen Phasen des Experiments wird er lebhaft, aggressiv, denkt nur noch an Sex und möchte am liebsten einen Streit anzetteln.
Ein medizinisches Buch ist es nicht, denn Witchall ist Journalist, kein Mediziner. Entsprechend gibt es keine fachliche Erklärung, wann was wie im Körper wirkt und warum er so reagiert. Es ist lediglich ein Erfahrungsbericht. Der aber sehr spannend zu lesen ist. Für Frauen, die nur wissend nicken können. Für Männer, die auf diese Weise vielleicht etwas mehr Verständnis gewinnen können für Frauen. Und für Menschen, die selbst Hormone nehmen und das Buch einfach mal anderen in die Hand drücken können und sagen "hier, lies, dann weißt Du, wie sich das anfühltt" ;-)
Also, kurz gesagt: kein fachlicher Nährwert, aber eine sehr treffende Schilderung. Leicht zu lesen, leicht zu verdauen, dabei aber höchst interessant und mit für Außenstehenden vielen erhellenden Momenten.
SaschaSalamander 17.12.2018, 10.16
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