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Ausgewählter Beitrag
Fettlogik überwinden
Vorab: es ist verdammt schwer, eine Rezension zu diesem Buch zu schreiben. Weil es sehr bewegend ist und man es nicht einfach nur lesen und weglegen kann. Das Buch zu lesen bedeutet vor allem sehr viel Emotion. Und es polarisiert. Inzwischen habe ich schon viele Leute im Web und Real getroffen, die mich auf dieses Buch ansprachen, und dann hieß es "ich habe kürzlich gelesen, Du solltest auch unbedingt" (neben mir hatten wohl viele andere bereits am ersten Erscheinungstag sofort gekauft *g*). Das Buch ist kurz nach Erscheinen in manchen Kategorien sofort auf Platz 1 bei Amazon gerutscht, und jetzt spricht man überall darüber. Aber wie soll ich etwas sachlich rezensieren, bei dem ich selbst emotional sosehr drinhänge? Ich versuche es einfach mal. Sorry, wird lang ;-)
Nadja Hermann ist vermutlich nur wenigen Lesern im Internet ein Begriff. Ihr Alias im Web dagegen ist überaus bekannt: als >Erzählmirnix< bloggt sie schon seit Jahren in knackigen Beiträgen und knappen Cartoons über die Themen, die ihr am Herzen liegen. Blieb sie anfangs (auch aus beruflichen Gründen als Therapeutin) eher im Hintergrund, wurde sie mit Aufgreifen des Themas "Fettlogik" immer persönlicher und direkter.
Sie hat einen ernährungswissenschaftlichen Abschluss gemacht, danach Psychologie studiert, ihre Diplomarbeit über Diäten geschrieben und eine Zusatzausbildung als Verhaltenstherapeutin gemacht. Trotzdem wog sie mit Anfang 30 fast 150 Kilogramm. Man ist geneigt zu sagen "wenn jemand mit einer solch theoretischen Vorkenntnis es nicht schafft abzunehmen, dann muss das einen guten Grund haben". Und der Grund war tatsächlich simpel, wenn auch sehr unangenehm: er lag nicht an Vererbung, Schilddrüse, Stoffwechsel, Trauma, einer bösen Verschwörung, sondern schlicht an - zuviel Kalorien. Als sie sich in ihrer Gesundheit massiv bedroht sah, entschied sie sich für einen radikalen Schnitt, nahm binnen kurzer Zeit 45 Kilo ab, begann dann schrittweise mit Sport und arbeite weiter an ihrer Kalorienzufuhr.
Sie las wissenschaftliche Artikel, wälzte Fachbücher, tauschte sich in Foren aus und musste erkennen, dass auch sie der "Fettlogik" verfallen war. Es gibt viele Mythen, Gerüchte und weitverbreiteten Ansichten, und diese nicht nur zu erkennen sondern aktiv dagegen vorzugehen ist ihr großes Anliegen. Deswegen teilt sie ihre Erfahrungen nun in dem Buch FETTLOGIK ÜBERWINDEN. In ihrem zugehörigen >Blog< veröffentlicht sie weitere Informationen über das Buch hinaus und regt ihre Leser zur Diskussion an.
Als begeisterter Leser der beiden Blogs und da auch mich das Thema sehr interessiert habe ich mir das Buch sofort heruntergeladen. Ich halte es für ein wichtiges Werk, weil es Diätratgeber entmystifiziert, Halb- und Unwahrheiten aufdeckt und endlich einmal ein klares Wort spricht, wo andere der Höflichkeit halber lieber schweigen. Fatacceptance heißt das Zauberwort, mit dem Menschen lernen sollen, ihren Körper zu lieben, mit dem adipösen Menschen die gesundheitlichen Risiken verschleiert werden und mit dem Personen trotz gesundem BMI bereits an den angeblichen Rand der Magersucht diskutiert werden. Dagegen geht Frau Hermann vor.
An dieser Stelle kurz ein subjektiver, höchst persönlicher Part von meiner Seite: Erzählmirnix spricht aus, was ich schon oft dachte aber nie auszusprechen wagte. Nämlich dass das, was als "gesund" vorgegaukelt wird, oft schon zu dick ist. Wer Kritik an Übergewicht übt, gilt sofort als unhöflich, wird beschimpft. Dass Übergewicht ebenso schädlich ist wie Untergewicht wird dabei gerne verdrängt. Ich stand mit meinem damaligen Höchstgewicht knapp vor der Adipositas und spürte bereits deutliche Einschränkungen im Alltag. Doch mein Umfeld meinte, ich sei halt "kräftig" bzw hätte "keinen Grund zum Abnehmen", meine Bedenken wurden einfach beiseite gewischt, meine Motivation abzunehmen wurde im Keim erstickt. Ich fühlte mich beim Lesen erinnert an des Kaisers neue Kleider. Frau Hermann ist das Kind, das ohne Bösartigkeit aber knallhart ehrlich auf das Übergewicht zeigt und sagt "das ist aber ungesund". Denn irgendeiner muss es schließlich einmal sagen. Ich halte es für mutig und bin gespannt, was sich daraus möglicherweise noch entwickeln wird. Der Gegenwind wird unvermeidbar sein bei einem solch emotional behafteten Thema.
Genug der Vorrede, jetzt sollte ich endlich etwas zum Buch selbst schreiben:
Je dicker die Bevölkerung wird, desto mehr scheinen auch die Verschwörungstheorien zu wachsen, warum das so ist. Es liegt am Kinderkriegen, am Stoffwechsel, am Älterwerten, am Hungermodus, an Krankheiten und Medikamenten. Das Frühstück ist die wichtigste Mahlzeit des Tages, abends sollte man nichts mehr essen, ein Magenband ist ´ne super Lösung, Obst zum Abnehmen ist top, Kohlenhydrate sind nböse, mehr als ein Pfund in der Woche abzunehmen ist schädlich, auch Dicke haben tolle Blutwerte, und die Todesrate ist auch nicht sehr viel höher als bei Normalgewichtigen.
Und dann gibt es den Selbstbetrug, dem man sich immer wieder verschreibt: "ich habe heute schon gesündigt, also kommt es darauf jetzt auch nicht mehr an", "ist ja nur ein Löffelchen Erdnussbutter", "Von Salat kann man nicht dick werden", "ich esse ja immer nur kleine Portionen", "obwohl ich gestern nichts gegessen habe, wiege ich heute ein Kilo mehr", "ich guck das nur an und nehm schon zu", "der kann essen, was er will, ohne überhaupt zuzunehmen" und derlei Sätze mehr.
Kommt, seit ehrlich, Ihr kennt das, oder? ;-) Und ja, ich kenne das auch. Es ist nicht leicht, wenn man plötzlich den Spiegel vorgehalten bekommt, doch genau das macht Frau Hermann in diesem Buch.
Sie geht das Thema sehr wissenschaftlich an, zitiert Studien, Forschungen und Fachliteratur. Dabei arbeitet sie durch und durch wissenschaftlich, beleuchtet auch die Hintergründe, hinterfragt kritisch die Ergebnisse. Sie zeigt das Für und Wider, versucht Gegenargumente zu finden, taucht tief in die Materie.
Die Literaturliste ist sehr lang. Zugegeben, ich habe die zig Seiten am Ende, auf der die Literatur benannt wird, nicht gelesen, kenne die Namen und Werke nicht. Aber ich bin sicher, dass demnächst einige Leute aufstehen werden, um ihre Aussagen zu widerlegen (ein wenig fühle ich mich gerade an die China-Study erinnert, die ebenfalls für viel Wirbel sorgte und immer noch sorgt).
Obwohl es sehr fachlich gehalten ist, liest sich das im Stil und ihrer Sprache sehr flüssig und angenehm. Bei einem Doktortitel und einer solchen Literaturliste hatte ich offen gesagt doch Angst, dass das Buch trocken und spröde würde. Doch die Erkenntnisse aus den Studien sind im Grunde so simpel, dass es eigentlich (was für ein schönes Wort, fast so gut wie aber) der gesunde Menschenverstand vorgeben müsste. Wenn da nicht der innere Schweinehund wäre, der eben lieber an Verschwörungen als an eigene Schwachpunkte glaubt ;-)
Das Buch liest sich wie eines dieser momentan angesagten narrativen "Sachbücher", die eher mit persönlicher Meinung als mit Fakten aufwarten. Während diese benannten Bücher allerdings selten mit Wissen glänzen, ist es hier umgekehrt: die Wissenschaft ist der Hauptteil, gewürzt mit persönlichen Anekdoten und Erlebnissen. Sie erzählt, wie sie selbst diesen Fettfallen erlag und sich viele Jahre im Weg stand. Beschreibt, was sie alles versuchte, um abzunehmen, und warum sie irgendwann kapitulierte. Erzählt davon, wie sie sich ihr Gewicht schöngeredet hat, wie die Umwelt auf das Abnehmen negativer reagierte als auf die gesundheitsgefährdende Adipositas.
Der Leser erkennt sich durch diesen Stil wieder. Wer selbst mit seinem Gewicht kämpft, wird auf jeder Seite sagen "ja, bei mir war das ganz genauso" oder "ohweh, das mache ich auch immer". Man fühlt sich ertappt, so als stünde sie in meiner Küche, blickte mir beim Naschen über die Schulter und piekste den Zeigefinger. Zugegeben, das ist gelegentlich sehr unangenehm und peinlich. Aber gleichzeitig beruhigend, nicht alleine mit diesen Ausreden und Sorgen zu sein ;-)
Am Ende kriegen sogar die "Normalgewichtigen" "ihr Fett weg": die sogenannten "Skinny fat" (zu denen auch ich mich -noch- zähle): Menschen, die sich im oberen gesunden BMI-Bereich befinden, die aber nicht trainieren. Deren Gewicht nicht durch Muskeln sondern durch überschüssiges Körperfett bedingt ist. Auch hier bestehen gesundheitliche Risiken.
Der Tonfall des Buches ist stets kritisch, aber niemals bösartig. Allerdings wird es schonungslos ehrlich, und mancher Betroffener wird sich sehr wohl angegriffen fühlen. Etwa wenn sie die vermeintliche Leistung einer adipösen Marathonläuferin relativiert oder in anderen Punkten klar ihre Meinung vertritt und sich gegen Fatacceptance ausspricht. Sie deckt den Selbstbetrug auf, und das tut weh, klar fühlt man sich dabei angegriffen. Aber irgendeiner muss es eben mal sagen ...
Eine Lösung kann sie am Ende nicht bieten, denn das liegt nur in der Hand des Lesers selbst. Doch sie zeigt viele Tips und Möglichkeiten, wie der Kalorienkonsum reduziert werden kann. Sie zerlegt alle Ausreden, will kein "aaaaber" hören.
Das Lektorat ist dafür, dass es ohne Verlag und ohne professionelle Unterstützung auskam, sehr gut geworden, sie und die Korrekturleserin / Lektorin hat wirklich sehr gute Arbeit geleistet.
Trotzdem sieht man dem Buch an, dass es nicht aus Profihand stammt: die Lesezeichen sind nicht klickbar, die Comics sind zu klein geraten und kaum lesbar, eine Tabelle ist nicht komplett lesbar da zu breit, hier und da hapert es an der Umsetzung vom Text am PC zum Ebook. Allerdings rechnete Frau Hermann wohl auch nicht mit dieser großen Resonanz. Und zudem gibt es die Möglichkeit, Bücher bei Amazon nachträglich zu bearbeiten und hochzuladen, sodass alle Käufer automatisch eine verbesserte Version erhalten, ich bin sicher die überarbeitete Fassung wird bald folgen.
Schade finde ich auch, dass nicht die originalen Comics ihres Blogs verwendet wurden, sondern die Texte übernommen und neue Zeichnungen eingefügt wurden. Das ist mir absolut nicht nachvollziehbar, da "Linksi" und "Rechtsi" inzwischen zu Kultfiguren im Web geworden sind, die fast jeder kennt. Dieses Markenzeichen einfach aufzugeben irritiert mich, aber es hatte wohl seine Gründe (?).
An der äußeren Form kann man noch arbeiten, inhaltlich ist das Buch mehr als gelungen. Ich bin sicher, dass man noch sehr lange darüber reden wird, dass die Wellen hochschlagen. Viele werden mit ihrer Hilfe abnehmen und ihr dankbar sein, andere werden sie beschimpfen und die Aussagen widerlegen. Deswegen soll sich jeder sein eigenes Bild darüber machen. Und wer wirklich etwas ändern möchte und auch für Kritik an seinem bisherigen Handeln zugänglich ist, der wird hier eine herausragende Anleitung finden, wie er zukünftig mit seinem Körper umgehen sollte.
Wer seine Verantwortung nicht in fremde Hände legen und WIRKLICH abnehmen will, der sollte Diätratgeber, Wunderpillen, sonstige Fachbücher und Co erst einmal weglegen und FETTLOGIK ÜBERWINDEN (lesen und tun). Leicht wird es nicht, das hat niemand behauptet. Aber es hilft. Alles andere sind Ausreden ;-)
Und, zum Schluss: Frau Hermann ist offen für Diskussionen, wie sie schon in anderen Fällen mehrfach bewiesen hat. Auf ihrem Blog gibt es die Möglichkeit, ihr Fragen zum Buch zu stellen, sich mit anderen Lesern auszutauschen und auch Kritik zu üben und eigene Gedanken anzumerken.
SaschaSalamander 26.05.2015, 09.41
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Was für eine tolle Rezension! Mich hat das Buch auch "erwischt" - und ich hab beschlossen
Ich nehm dann mal ab….
vom 29.05.2015, 15.45