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Ausgewählter Beitrag
Ich bin Linus
KLAPPENTEXT
Ein Satz, der wie eine Selbstverständlichkeit klingt - "Ich bin Linus" -, doch er teilt sein Leben in ein Davor und Danach. Auf beeindruckende Weise erzählt Linus Giese, warum er einunddreißig Jahre alt werden musste, um laut auszusprechen, dass er ein Mann und trans ist, und warum sein Leben heute vielleicht nicht einfacher, aber sehr viel glücklicher ist.
VORAB
Die Erfahrungen und Gedanken, die Linus mit den Lesenden teilt, sind sehr intim und berührend. Daher möchte ich nicht rezensieren und werten sondern lediglich beschreiben. Es ist mir sehr wichtig, Euch dieses Buch vorzustellen und zu erzählen, was Euch beim Lesen erwartet und welche Themen der Autor anschneidet. Aufgrund der Thematik wird mein Beitrag natürlich sehr subjektiv ;-)
TONFALL
Obwohl Linus viel und ausführlich von Problemen, Schwierigkeiten und sowohl privater wie auch struktureller Gewalt und Diskriminierung schreibt, ist der Grundton des Buches positiv. Er benennt zwar die Dysphorie, legt das Augenmerk aber auf die Euphorie, auf die Freude am sich verändernden Körper, die Freude über die Reaktion der Umwelt auf ihn als Mann. Auch schildert er, dass er nicht aus Selbsthass und Frust über den falschen Körper weg-transitionierte, sondern aus Liebe zu sich aus dem Selbsthass ausgebrochen und zu sich hin-transitioniert ist. Ein äußerst wichtiger Unterschied, der sich angenehm von dem sonst in der Öffentlichkeit vermittelten Klischee abhebt.
Es war mir eine Freude, Linus in diesem Buch zu begleiten. Trotz vieler negativer Erfahrungen ist der Tonfall niemals jammernd, klagend oder um Mitleid heischend sondern bei ernsten Themen sachlich, ansonsten stets optimistisch und lebensbejahend.
STIL, AUFBAU, ART
Es ist bei diesem Thema kaum möglich, eine chronologische Biographie zu schreiben. Auch in den Werken anderer trans Menschen fiel mir dies auf: schreibt man thematisch, wirbelt man quer durch die einzelnen Lebensphasen, es wird unübersichtlich. Folgt man dem Zeitstrahl, werden Themen nur angerissen und nicht ausführlich behandelt.
Linus hat sich also entschieden, das Buch thematisch zu gliedern und sich nicht auf den zeitlichen Ablauf sondern die ihm wichtigen Inhalte zu konzentrieren. Gelegentlich kommt es vor, dass ein harter Cut zwischen einzelnen Kapiteln ist, aber durch die saubere Gliederung und die Überschriften ist es immer einigermaßen strukturiert (im Hörbuch fällt es ohne optische Gliederung etwas schwerer, dennoch kann man weiterhin gut folgen).
Es gibt viele Zitate auf Englisch, die fast nie übersetzt wurden. Mich stört das nicht, aber für manche Leser kann das wohl ein Hindernis darstellen. Immerhin ist es so in den Kontext eingebunden, dass die Kernaussage dennoch klar wird.
ÖFFENTLICHE SICHTBARKEIT
Zu Beginn nennt er das Zitat von Jaqueline Scheiber: "Ich halte es für unerlässlich, dass es Menschen gibt, die sich in die Mitte des Raumes stellen und darauf bestehen, gesehen zu werden". Viele trans Personen haben dies bereits getan. Doch keiner (von denen, die ich gelesen habe) schrieb so offen über die düsteren Momente, die für viele eben auch dazugehören. In den meisten mir bekannten Büchern wirkt alles so nahtlos, so eindeutig. All die Selbstzweifel, Sorgen, Probleme, Ängste, Schwierigkeiten blieben unerwähnt, sodass häufig ein für mich viel zu glattes Bild entsteht, das meinem Empfinden nach nur an der Oberfläche kratzt.
Allerdings kann ich mir vorstellen, dass manche Szenen auch triggern könnten: Cybermobbing, sexuelle Übergriffe und Gewalt, Täter-Opfer-Umkehr und andere Beschreibungen gehen unter die Haut und zeigen, welchen Diskriminierungen viele trans Menschen heutzutage noch immer ausgesetzt sind und mit welchen Schwierigkeiten sie im Alltag kämpfen.
KÖRPERLICHE UND PSYCHISCHE REFLEKTION
Auch hier schreibt Linus sehr intim und direkt. Zum Beispiel über das Thema negative sexuelle Erlebnisse, Scham sowie andere unangenehmen Gefühle und Erfahrungen. Davon, wie es ist, wenn der Körper sich verändert und irgendwann keinem gängigen Bild von Mann und Frau mehr entspricht (besonders diejenigen, welche eine geschlechtsangleichende Operation ablehnen). Er beschreibt, wie es ist, sich selbst finden zu müssen ohne gesellschaftliche Vergleichsmöglichkeiten, unpassend in beiden Umkleidekabinen.
Er schreibt davon, wie er früher wenig Bezug zu seinem Körper hatte, wie wenig Selbstwertgefühl und wie viele Selbstzweifel er hatte, über SVV und Vernachlässigung. Und auch davon, wie er schrittweise zu sich selbst findet und seinen Körper immer deutlicher spürt. Wie oben gesagt: trotz vieler trauriger oder negativer Themen ist das Buch durch und durch positiv, macht Mut. Er schildert seinen Körper sehr anschaulich als Wohnung, in der er es sich schrittweise gemütlich macht.
Jede Biographie einer trans Person setzt andere Schwerpunkte. In diesem Buch finde ich besonders den Prozess der Selbstfindung und persönlichen Entwicklung hervorragend umgesetzt und sehr gut nachzuvollziehen.
GESELLSCHAFTLICHES
ICH BIN LINUS verlangt den Lesenden einiges ab. Hier geht es nicht mehr einfach nur um Mann und Frau, sondern der Autor möchte das Bild von Geschlechtern aufbrechen und Bewusstsein schaffen für den Raum dazwischen. Manche Transitionierenden denken strikt binär und fühlen sich irgendwann ab einem bestimmten Punkt als Mann oder Frau angekommen. Linus dagegen schildert, dass seine Transition endlos dauern wird, Level für Level geht es aufwärts, ein Leben lang.
Er schildert Mikrodysphorie und Mikroaggressionen, schafft Bewusstsein für die Feinheiten, mit denen Betroffene zu kämpfen haben (zB nett gemeinte Komplimente oder harmlose Andeutungen, die für sich gesehen nicht schlimm sind, die aber dennoch übergriffig sind und in der Gesamtheit verletzen und zu Dysphorie führen).
Sprache, Medizin, Mikroaggressionen, Gesetzeslage, strukturelle Gewalt ist ein großes Thema: die Problematik uninformierter Ärzte, übergriffiges Therapeutenverhalten, die Reaktion des Verkaufspersonals in Kleidungsgeschäften, Verhaltensweisen von Arbeitgebenden und Kolleg:innen, die Blicke der Patientinnen im Wartezimmer der Gynäkologie, ja sogar innerhalb der Szene in schwulen Datingportalen oder auf queeren Veranstaltungen. Je mehr er aufzeigt, desto bewusster wird beim Lesen, wiesehr trans Menschen im Alltag mit Vorurteilen und Desinformation zu kämpfen haben.
Es ist aber keine Anklage, sondern vor allem eine Hilfe, wie man auf trans Personen zugehen kann, wie man sie unterstützt, welche Hilfen notwendig sind, wo der Staat nachbessern muss und wie einzelne Angehörige, Freund:innen, Kolleg:innen unterstützend tätig werden können.
ZIELGRUPPE
Natürlich kann ich nicht für Linus sprechen, welche Zielgruppe er beim Schreiben vor Augen hatte. Empfehlen würde ich selbst es vor allem für alle Interessierten, die sich neben privaten Erfahrungen auch und besonders mit der gesellschaftlichen Seite der Transition auseinandersetzen wollen.
Angehörigen würde ich es eher zu lesen geben, wenn sie entweder schon anderweitig informiert waren und / oder das Gelesene gut reflektieren können (wer es einfach liest und wenig differenziert, könnte schnell Angst bekommen "was, wenn meinem Kind auch solche Dinge wiederfahren"). Wer sich seit ein paar Tagen frisch damit auseinandersetzen muss, dass das eigene Kind plötzlich bei einem neuen Namen genannt werden möchte, sollte sich wohl besser erst allgemein in das Thema einlesen und wäre mit einem Buch über aufbrechende Geschlechterkategorien und gesellschaftliche Diskurse vermutlich überfordert.
PERSÖNLICHE GEDANKEN ZU DIESEM BUCH
Weil dieses Buch mich sehr berührt hat, wird dieser Teil hier etwas länger als sonst üblich. Wer sich also nur für das Buch interessiert und wem meine eigenen Gedanken dazu egal sind, der darf hier gerne abbrechen ;-)
Ich habe schon so viele Bücher rund um Transidentität, Transition und trans Biographien gelesen. Und alle haben mich auf gewisse Weise hier oder dort im Inneren berührt. Linus hat da einen Punkt in mir berührt, den andere bisher noch nicht getroffen hatten: ich bin so dankbar, dass er das Geschlechterbild aufbricht und sich vom nonbinären Denken entfernt hat.
Die Offenheit seines Buches heute lässt mich daran zurückdenken, in welch starren, heteronormativen Verhältnissen ich damals vor über 40 Jahren in einer christlich geprägten ländlichen Gegend aufgewachsen bin. Mein Outing hätte wohl weit früher stattgefunden, wäre ich damals mit Konzepten von Nonbinarität vertraut gewesen oder gar damit, dass sexuelle Identität und Neigung zwei verschiedene Dinge sind und trans Menschen nicht zwangsläufig heterosexuell sein müssen.
Bei Linus ist sehr viel Platz für Zwischenräume - durch sein Auftreten und sein Buch macht er Menschen sichtbar, die in anderen Büchern oft vergessen werden.
Ich stelle fest, dass die Medien in diesem Themenbereich in den letzten Jahren reifer werden, anspruchsvoller. Damit möchte ich den anfänglichen öffentlichen Outings nicht unterstellen, dass sie oberflächlich oder unreif sind, aber die Zeiten haben sich geändert. Ich denke, man merkt, wie die Gesellschaft sich verändert, wie immer neue Varianten und Blickwinkel dazukommen:
Als Balian schrieb, las ich von einem heterosexuellen, sportlichen, äußert "männlichen" Mann (ich will es ungern toxisch nennen, aber es war schon extrem maskulin und betont heterosexuell im mustergültigen Sinne, noch dazu Olympionike, sportlich und durchtrainiert, für mich persönlich alles sehr abschreckend gewesen damals, ich fühlte mich nach der Lektüre sehr traurig und einsam, was ich aber nicht dem Autor anlasten möchte, auch er äußert sich inzwischen in seinen Workshops und Medien komplett anders als das Buch sich 2010 las).
Ich konnte mich damit nicht identifizieren, litt weiterhin unter meinem Anderssein. Erst nach und nach kamen Männer wie Jill Deimel (langhaarig, tätowiert, künstlerisch), Niko Flütsch (Gynäkologe, verheiratet mit einem Mann), Sebastian Wolfrum (Pfarrer, sozial und empathisch) ins Bild der Öffentlichkeit.
Linus nun ist Literaturblogger, flüchtete sich früher in Bücher, trägt offen seine bunten Jacken mit Blumenmuster, lackiert sich die Nägel, und ich rufe laut HURRA!
Er präsentiert eine Art von Männlichkeit, die ich sehr schätze: weiche Schale, harter Kern - wer innerlich erstarkt ist, zu sich selbst steht und sich seiner selbst bewusst ist, der scheut sich auch nicht, seine weiche Seite nach außen zu tragen. Ein solcher Mann kann über Kuscheldecken reden und seine Gefühle zeigen ohne an seiner Männlichkeit zu zweifeln.
Bei allen Biographien und Erfahrungen dachte ich mir "da fehlt was" und "sollte ich mich eines Tages aufraffen, doch mal ein Buch zu schreiben, dann werde ich diese und jene Punkte auf jeden Fall ansprechen wollen". Linus hat das nun quasi für mich getan. Er hat sich die Mühe und Arbeit gemacht, vor der ich mich schon so lange gedrückt habe. Er hat sich in die Öffentlichkeit gestellt und all das in Worte gepackt, was mir bei diesem Thema wichtig ist. Und dafür kann ich nicht genug DANKE sagen!
Ich bin gespannt, wohin die gesellschaftliche Reise gehen wird. Vielleicht wird bald ein Mann davon schreiben, wie er sein Kind ausgetragen hat? Oder eine nonbinäre Person über den eigenen Lebensweg, die Selbstfindung und die gesellschaftlichen Reaktionen? (Falls es diese Bücher schon gibt, freue ich mich über einen entsprechenden Verweis)
Ich wünsche mir, dass wir immer offener über Randthemen sprechen können und die Gesellschaft den Blick dafür schärft, dass Minderheiten ebenso einen Platz verdient haben. Wenn Minderheiten nicht mehr versteckt werden, wenn immer mehr sich öffentlich in den Raum stellen - dann wird nämlich plötzlich offenbar, dass jeder Mensch einzigartig ist und sich in irgendeiner Weise von der "Norm" abhebt.
FAZIT
ICH BIN LINUS ist ein äußerst persönliches und auch gesellschaftskritisches Buch über Männlichkeit, Transition und die Selbst-Bewusstwerdung des Autors. Ich möchte es unbedingt jedem ans Herz legen, der sich tiefergehend mit diesen Themen befassen möchte.
SaschaSalamander 20.01.2021, 08.53
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