SaschaSalamander

Ausgewählter Beitrag

Kryonium


Klappentext:
Gefangen an einem unbekannten Ort, schmiedet der Erzähler heimlich Fluchtpläne. Die Tatsache, ohne Erinnerungen zu sein, erschwert das Vorhaben. Doch der Drang, endlich auszubrechen aus diesem furchteinflößenden, schneeverwobenen Schloss, lässt ihn jedes Risiko eingehen. Und so gerät der Erzähler immer tiefer hinein in einen wirren Strudel aus rätselhaften Begegnungen und magischer Paranoia, die er spielerisch zu entschlüsseln hofft, was ihn letztlich zum Ursprung seiner Erinnerungen führt. Der All-Age-Roman ist ein technoides Märchen, das sich mit Virtualität auseinandersetzt und die Frage aufwirft, was Erinnerungen sind und was sie bedeuten. Nichts ist so, wie es scheint in der Geschichte und die Frage, was Realität ist, muss immer wieder neu überdacht werden.


AUTOR

Text aus dem Buch übernommen: Matthias Alexander Kristian Zimmermann wurde 1981 in Basel (Schweiz) geboren und ist in ländlicher Umgebung im Kanton Aargau aufgewachsen. Er studierte musikalische Komposition, Kunst & Vermittlung, Game Design, Art Education und Pädagogik. Zimmermann ist Schriftsteller, Maler und Medienkünstler. Seine Bilder, die er als "Modellwelten" bezeichnet, reflektieren und erforschen die Kunst-, Design- und Mediengeschichte. Sein Werk erfuhr eine breiten Rezension und befindet sich in Sammlungen diverser Museen.

Der Autor war mir bis zu diesem Buch nicht bekannt, daher wusste ich nicht, was mich inhaltlich oder sprachlich erwarten würde. Während des Lesens lässt sich wenig daraus ableiten (aber sehr viel erahnen). Erst nach der gesamten Lektüre ergeben auch der Hintergrund des Autors und das Buch eine Einheit, sodass manches klar wird, was wie warum auf diese Weise geschrieben wurde und was er damit aussagen möchte. 


GENRE

Ich möchte KRYONIUM keinem Genre zuordnen. Es spielt sich auf verschiedenen Ebenen ab und wechselt mehrfach den Stil, das Setting. Sowohl sprachlich als auch inhaltlich sowie im Setting gibt es teils sehr viele Widersprüche, die sich später aufklären, anfangs aber verstörend wirken, teils auch den Lesefluss stören. Es ist eines der Bücher, auf die man sich komplett einlassen muss. Wer ein bestimmtes Genre erwartet oder sich während des Lesens glaubt festlegen zu müssen, der wird das Buch schnell entnervt zur Seite legen.


CHARAKTERE

Auf dem Klappentext steht "der Erzähler", was eine männliche Person impliziert. Tatsächlich ist es ein "Ich-Charakter" bzw eine "Ich-Figur", geschrieben in der ersten Person Singular, stets geschlechtslos, identitätslos, aus dem Verhalten / Sprechen der anderen Charaktere werden Name und Gender nicht ersichtlich. Ich nenne die Figur ab jetzt ganz neutral E (Erzähler:in). Während des Lesens ist vieles unklar. Ist E neutral, damit Lesende sich besser identifizieren können auf dieser leeren Leinwand? Ist E fiktiv und nicht real und somit auch ohne Geschlecht? Ist es überhaupt wichtig, wer E ist, oder ist die Suche nach Es Identität nur das Mittel zum Zweck des Buches?

Ich selbst hatte jedenfalls große Probleme, mich mit E zu identifizieren, konnte mich sehr schwer hineinversetzen. Da E sich an nichts erinnern kann und da die Umwelt sehr verzerrt ist, konnte ich nicht wirklich in das Geschehen eintauchen. Dadurch war mir E ziemlich egal. Sollte E doch einen Ausweg finden oder nicht, das kümmerte mich herzlich wenig.

Die Nebencharaktere bleiben ebenfalls extrem blass. Anfangs nur Bezeichnungen, später vereinzelte Namen. Spoiler hatte ich nicht gelesen (und werde hier auch keine anbringen), doch anhand der Andeutungen und einiger Hinweise auf dem Cover war mir klar, dass in diesem Buch kaum etwas so ist, wie es scheint. Daher ahnte ich bereits, dass die blassen Charaktere so blass sein müssen und ich später erfahren würde, woran das liegt. Dies hat sich bald bestätigt. Aber leider änderte es nichts daran, dass man beim Lesen kaum eintauchen kann und sehr distanziert bleibt.


AUFBAU / SCHREIBSTIL

Das Buch ist ein drei bzw vier Teile gegliedert. Der erste nennt sich "Amnesie", der zweite "Monotonie", der dritte "1, 10, 11, 100, 101, 110, 111, 1000, 1001". Bereits hier wird klar, dass das Buch Wendungen in eine recht kunstvolle oder naturwissenschaftliche oder gar abstrakte Richtung nehmen wird. 

Die Teile unterschieden sich in ihrem Setting und ihrem Stil. Der erste Teil enthält sehr viele Elemente der High-Fantasy. Jedoch ist unklar, wie die Physik und die Gesetze dieser Welt funktionieren, sodass es, unrealistische Fantasy hin oder her, sehr viele "Realitätsbrüche" und Unklarheiten gibt. Dieser Teil ist fast durchweg nur beschrieben. Obwohl es eine Handlung gibt, und obwohl es auch kurze "Actionszenen" gibt, liest es sich alles sehr steril und sachlich. "Show don´t tell" wurde hier komplett umgekehrt, es wird nur erklärt und nichts gezeigt. Es mag Lesende geben, die diesen Stil mögen, mir war es zu trocken, ich habe viel pausiert, und nur der Ausblick auf die weiteren Teile brauchte mich zum Weiterlesen. Zugegeben erforderte das Lesen des ersten Teils für mich sehr, sehr viel Geduld. 

Der zweite Teil spielt scheinbar in einer uns bekannten Realität, doch auch hier kommt es zu Verzerrungen, Verwirrungen. Viele Elemente des ersten Teils werden aufgelöst und fließen metaphorisch in die Handlung ein. Was im ersten Teil noch wie eine belanglose Orts- und Personenbeschreibung wirkte, was nebenbei erwähnt wurde, erhält hier nun endlich eine Bedeutung. 

Gelegentlich beginnt der Autor tatsächlich zu zeigen statt nur zu erklären, die Handlung kommt langsam in einen Fluss. Etwa ab der Mitte des Buches baut sich dann ein gewisser Spannungsbogen auf, der tatsächlich zum zügigen Weiterlesen animiert. 

Der dritte Teil wirkt spielt in einer uns bekannten Realität, doch auch hier hat der Autor immer wieder Elemente eingebaut, welche an diesem Konstrukt rütteln. Es erinnert an den Traum in einem Traum in einem Traum. 


SETTING / THEMEN

Man kann wie beim Genre nicht wirklich von einem klaren Setting reden. Ich möchte den hier Lesenden die Chance geben, sich selbst auf das Buch einzulassen statt vorab zu erfahren, an welchen Orten / in welchen Welten / auf welchen Ebenen die Handlung geschieht. 

Märchen, Naturwissenschaft, Physik, reale und fiktive Orte werden gemischt, Dinge beginnen zu leben, Phantasien werden real und Reales entpuppt sich als Phantasie. Allerdings geschieht dieser Bruch selten offensichtlich. Vielmehr fühlt es sich an wie ein Nebelschleier, der alles nur schemenhaft darstellt. Gelegentlich wird der Schleier vermeintlich gelüftet, um kurz darauf erneut alles zu überdecken. Das Buch spielt mit unzähligen Symbolen. Es ist sehr schnell klar, dass Dinge etwas anderes bedeuten und für etwas anderes stehen. Wie dies aber zu lesen ist, bleibt verborgen, ist sehr unterschiedlich. Manches ist grammatikalisch zu entschlüsseln, anderes mathematisch, computertechnisch, philosophisch, musikalisch. Es gibt unzählige begeisterte Aha-Effekte beim Erkennen eines Symbols, zugleich aber sehr viel Frust über das fehlende Verständnis der tatsächlichen Bedeutung. 

Der Autor gräbt sich durch unterschiedlichste Themengebiete und Inhalte. Vor allem sehr viel Mathematik (Monome, Geometrie, Kugeln, Quadrate, Volumen, Pyramide, Tangramme, Fraktal, Goldener Schnitt, Spiegelungen), aber auch Sprache (vor allem Palindrome, die Bedeutung von Namen und Begriffen), Computer (verschiedene Programme, Funktionen, Apps, Funktionsweisen, Games) und Musik. Vieles ist auf Anhieb erkennbar, manches ist anfangs noch diffus und wirkt daher stellenweise sehr wirr und chaotisch, sodass ein roter Faden anfangs nicht ersichtlich scheint. Auch viele philosophischen Aspekte über Wirklichkeit und Wahrnehmung spielen im Laufe des Buches eine tragende Rolle.


PERSÖNLICHE MEINUNG

Für mich wirkt das Buch wie ein wilder Mix aus SHUTTER ISLAND, INCEPTION, MEMENTO, BUTTERFLY EFFECT, DONNIE DARKO und MATRIX. Und tatsächlich würde ich KRYONIUM unglaublich gerne als Film sehen. Zwar gingen einige Anspielungen dabei leider verloren, andererseits könnte es bildgewaltig sehr schön dargestellt werden. Zudem würde ein zweistündiger Film weniger Zeit einnehmen als das Buch (und gerade anfangs zog sich die Lesezeit für mich sehr lang, bis die Handlung endlich in Fahrt kam). 

Dass ich mich durch den Anfang "gequält" hätte kann ich nicht sagen, allerdings habe ich das Buch über viele Tage hingezogen und eher pflichtbewusst als gespannt gelesen. Die letzten beiden Drittel habe ich begeistert in einem Rutsch gelesen, fasziniert von den Zusammenhängen und neuen Entdeckungen, die sich immer mehr vor mir ausbreiteten. Aber: ich fieberte nicht mit den Personen, tauchte nicht in die Handlung, auch bis zum Ende war ich stets ein Betrachter von außen, fühlte mich dem Buch dennoch fremd.

Inhaltlich hat mich das Buch fasziniert, die in meinem Kopf entstandenen Bilder werden noch sehr lange nachwirken. Ich liebe es, wenn ein Autor mir etwas Neues präsentiert, das sich von der Masse abhebt und mir damit neue Erfahrungen beschert. Das hat Matthias A K Zimmermann auf jeden Fall getan, und diese Leseerfahrung wird mich noch lange begleiten. Emotional allerdings hat es mich nicht berührt, nichts in mir ausgelöst. Mein Geist wurde gefüttert und ist satt. Aber als nächstes lese ich wieder etwas, das mich nicht fasziniert sondern bewegt ;-)


FAZIT

Ein fachlich grandioses Buch, das mit vielen Wendungen zu überraschen weiß und mit seinen unzähligen Themen eine faszinierende Leseerfahrung bereitet. Allerdings muss man dafür in Stimmung sein und sich auf den doch recht trockenen Schreibstil einlassen können. Auch muss man dem Buch Zeit geben, sich nach und nach zu entwickeln. Dafür wird man am Ende mit existenziellen Gedanken und sehr vielen Aha-Momenten belohnt.

SaschaSalamander 09.06.2021, 15.29

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