SaschaSalamander

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Rückkehr ins Wunderland

RÜCKKEHR INS WUNDERLAND. Auf den ersten Blick dachte ich glatt, es sei ein Comic aus Amerika, typisch im Zeichenstil und in der Story. Doch nein, der Zeichner Daniel Leister kommt aus Deutschland, und umso neugieriger war ich auf dieses ungewöhnliche Werk.

Alice wurde in die Gegenwart verlegt. Sie ist inzwischen erwachsen, verheiratet und hat zwei Kinder. Doch sie hat niemals wirklich die Erlebnisse im Wunderland verarbeitet, ist noch immer traumatisiert. Nach einem weiteren Selbstmordversuch wurde Tochter Calie angehalten, sich um ihre Mutter zu kümmern. Sie ist widerwillig, doch sie tut es, und eines Nachts wird auch sie in das Wunderland hineingezogen. Düster, brutal und sehr blutig geht es dort inzwischen zu, sie watet regelrecht durch das Blut der Leichen, und auch ihr Leben ist nun in Gefahr. Die Grenzen zwischen Realität und Traum, zwischen Gesundheit und Wahnsinn beginnen zu verwischen. Und während Calie im Wunderland ihre grausamen Abenteuer erlebt, kämpft ihr Bruder erfolglos gegen die Dämonen in seinem Inneren ...

Die Anzahl der Alice-Adaptionen, sei es als Buch, Film, HÖrspiel, Comic, Manga, Computerspiel, Artbook etc lassen sich nicht mehr zählen. RÜCKKEHR INS WUNDERLAND reiht sich da in beste Gesellschaft. Ich möchte auch keine Variante mit der anderen vergleichen, zu verschiedenen sind sie in ihren Intentionen. Was ich aber ohne Vergleich sicher sagen kann: ich kenne einige Horror-Adaptionen (dafür bietet das Grundthema sich ja auch bestens an), doch diese hier übertrifft sie alle um Längen. 

Der Zeichenstil ist düster. "Hübsch" kann man die Zeichnungen nicht nennen, das war auch niemals das Ziel von Daniel Leister. Dafür sind sie einnehmend, intensiv, höchst emotional und eindringlich, sie wirken lebendig, realistisch und ziehen den Leser tief in die Handlung hinein. Das Leben wird in all seiner Hässlichkeit präsentiert: Männer, die ihre Ehefrau betrügen, psychische Krankheit, die dunkle Seite der Erotik, Suizid, Mord, Drogenkonsum, Inzest, Kindsmissbrauch und viele weitere Dinge, die hier gezeigt bzw thematisiert werden. Nein, ein solcher Comic darf nicht "hübsch" sein, das Grauen und die Boshaftigkeit steht den Figuren ins Gesicht geschrieben. Und auch Alice, die Protagonistin, ist kein unschuldiges Mädchen. Sie sagt klar: "Mein Papa hat mich immer mit ins Kino genommen. Oft in irgendwelche Horrorfilme in der Spätvorstellung. Und irgendwie hat da mal die dümmliche Tussi, die normal nur da war, damit riesige Titten und lange Beine gezeigt werden konnten, gegen den Splatterer die Oberhand behalten und ihn umgehauen. Aber dann ist sie, warum auch immer, weggerannt, anstatt etwas echt Schweres in die Hand zu nehmen und dem Scheisskerl den Rest zu geben." Alice hat gelernt. Sie rennt nicht davon, sie wehrt sich. Sehr zur Freude des Lesers ;-)

Was allerdings die "riesigen Titten" betrifft, über die Alice sich selbst mokiert - da hat der Zeichner sich leider sehr am Standard der üblichen Comics orientiert, vermutlich wollen einige Leser das sehen oder wollte er es selbst zeichnen. 

Zusätzlich zur Story gibt es zwischen den einzelnen Abschnitten Coverbilder, die teils im Stil alter PinUps gehalten sind, hübsch im Sepia-Ton gehalten. Diese gefallen mir zeichentechnisch sehr, sie sind äußerst kunstvoll und 
ansprechend. 

Zu Beginn wirkt es, als wäre es eine von vielen Adaptionen, die einfach nur Blut vergießen, des Blutes wegen ohne wirkliche Handlung. Bis kurz vor Ende habe ich all die Splatter-Szenen genossen, hätte dem Comic aber nicht allzu viele Punkte gegeben. Doch kurz vor Ende zieht die Handlung drastisch an: in dem Moment, als man denkt, es ist nun alles vorbei, geht es eigentlich erst richtig los. Es gibt eine Einführung in die Hintergründe des Wunderlandes, und diese reichen sehr weit. Ein Roadtrip im Kampf gegen die Finsternis beginnt, der Comic endet äußerst vielversprechend. 

Insgesamt kann ich nach dem ersten Band nicht sagen, wie tief die Story geht. Bisher kann ich nur sagen, dass durch ein paar Zitate aus Matrix und von Shakespeare eine vermeintliche Tiefe vorgegaukelt wird, die im Grunde aber nur Worthülsen sind. Was jedoch auf den letzten Seiten geschieht, könnte, falls es geschickt ausgebaut wird, sehr weitreichend sein und zu einer ziemlich komplexen, psychologisch und mythologisch faszinierenden Story werden, die deutlich über simplen Splatter hinausgeht und ein richtiger Leckerbissen für Freunde des gepflegten Edel-Horrors im Stil von Lovecraft, Poe und Co werden könnte. Sicher ist, dass es für mich nicht bei diesem einen Band bleiben wird, ich freue mich schon sehr darauf, die Fortsetzungen zu lesen ...

Schlussmeinung: sehr gelungen, herrlich düster und überraschend, sehr schöne Idee, mal anders als der Rest. Aber schade, dass zu viel Fanservice eingebaut wurde (ist halt ein Männer-Comic, den mancher sich wohl auch ins Badezimmer legen würde) und der Aspekt Lovecraft weniger betont wird. Setzt stellenweise ein bisschen zuviel Wert auf Optik und Splatter statt auf Handlung, man hätte doch etwas mehr rausholen können ...


SaschaSalamander 15.05.2014, 08.35

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