SaschaSalamander

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Tag: Tip

Raum

donoghue_raum_1.jpgINHALT

RAUM ist geschrieben aus der Sicht des kleinen Jack. Was der Leser schnell begreift: Jacks Mutter wurde vor sieben Jahren entführt, der Täter hält sie seitdem in einem winzigen schallisolierten Schuppen gefangen und missbraucht sie. Jack ist der Sohn des Entführers. Inzwischen ist Jack fünf Jahre alt, und was für andere Menschen Folter ist, das ist für ihn die Normalität, er kennt es nicht anders, der RAUM vermittelt ihm Geborgenheit, und seine Mutter tut alles, dass der Kleine so gut als möglich aufwachsen kann, sie unterrichtet ihn, spielt mit ihm, fordert ihn. Doch an seinem fünften Geburtstag erzählt sie Jack, dass der Raum nicht die einzige Welt ist, und dass es außerhalb dieser vier Wände mehr gibt. Die Figuren im TV sind echt, und sie kommt ursprünglich von dort draußen, und dort möchte sie auch wieder hin, und gemeinsam mit ihrem Sohn schmiedet sie nun einen wagemutigen Plan, ihrem Gefängnis zu entkommen.



AUFBAU

Das Buch ist gegliedert in fünf Teile. Ich möchte nicht spoilern, deswegen gehe ich hierauf nicht ein. Da ich vorher keine Rezensionen las, hat der Fortgang des Buches mich sehr überrascht. Anhand der Kapitel hätte ich es erahnen können, aber im Nachhinein sind natürlich Dinge klar, die man vorher nicht verstand, sodass ich über die Wendung dann sehr erstaunt war, da ich mit einem anderen Buch gerechnet hätte (und der letzte Satz, den ich so gerne lese, in der Tat einen falschen Eindruck vermittelte. Clevere Schachzug der Autorin!)



JACK

Das Buch ist geschrieben aus der Sicht des kleinen Jack. Schon nach den ersten Sätzen war er mir so sympathisch, dass ich das Buch nicht mehr zur Seite legen konnte. Es ist der Autorin sehr gut gelungen, die kindliche Sprache wiederzugeben, und der Leser hat sofort ein klares Bild vor Augen, wenn er an Jack denkt. Er ist klein und blass, er kennt kein Tageslicht, seine Haare haben noch keine Schere gesehen. Aber er ist flink und intelligent. Seine Mutter hat rund um die Uhr Zeit, ihn zu unterrichten, und spielerisch erfährt Jack mehr als so manch andere Kind seines Alters. Doch so intelligent er in manchen Dingen ist, so überfordert ist er von anderen Bereichen, die außerhalb des Raumes liegen, und die Welt draußen ist eine Belastung für ihn.

Gemeinsam mit Jack betrachtet der Leser die Welt aus den Augen eines Kindes. Naive Fragen, unschuldig, rein. Was andere Menschen täglich sehen und begreifen, ist für ihn fremd und muss erlernt werden, und so stellt er alles infrage, was für uns Alltag ist.

Dem Leser wird schmerzlich bewusst, dass alles, was Jack als Spiel empfindet, grausame Realität für seine Mutter ist. Sie spielen "Schreien" und stellen sich an das Oberlicht des Schuppens und lärmen, soviel sie können. Ein witziges Spiel, bei dem Jack sich herrlich verausgaben kann. Für seine Mutter der verzweifelte Versuch, andere Menschen auf sich aufmerksam zu machen. Das Sparen und Haushalten mit den wenigen Besitztümern ist für die Mutter eine Qual, Jack dagegen macht es Spaß, die Eier nicht zu zerschlagen sondern auszublasen und daraus eine Schlange zu basteln, sodass er wenigstens ein kleines Spielzeug in seinem RAUM hat.


ANDERE CHARAKTERE

So deutlich Jack dem Leser ist, so klar er Einblick in seine Gefühle und Gedanken gibt, sosehr sind andere Figuren verschwommen. In die Mutter kann man nicht hineinsehen, Jack beschreibt sie, er liebt sie, sie ist alles, was er hat, aber er ist noch ein kleines Kind und sieht die Welt mit anderen Augen. Und so ist vieles für ihn unbegreiflich, was sie sagt oder tut. Er ist eben ein Kind, quengelig und trotzig, und wenn er gegen seine Mutter aufbegehrt, dann zerreißt es dem Leser schier das Herz, denn der Leser weiß, wiesehr seine Mutter ihm gerne ein normales Leben bieten würde, wie gerne sie ihm Kerzen auf den Kuchen geben würde, doch Jack verlangt nur und begreift nicht, was dies wirklich bedeutet.

Der Täter, von Jack "Old Nick" genannt nach einer Filmfigur, bleibt sehr unklar. Er vergewaltigt die Mutter, aber dies ist niemals voyeuristisch. Wie sollte es auch, weiß Jack nichts von der wahren Bedeutung und findet seine eigenen Möglichkeiten, mit diesen Momenten umzugehen und sie in seine kleine Welt einzufügen. Alles, was außerhalb von Jack liegt, bleibt zu einem großen Teil die freie Interpretation des Lesers, und das ist oft schlimmer, als wenn man den Dingen einen klaren Namen geben würde ...


SPRACHE, STIL

Die Autorin verfasst das Buch in der Sprache eines Fünfjährigen. So werden Vergangenheitsformen manchmal falsch verwendet (genimmt, geschneidet, etc), einige Wörter konsequent falsch gesprochen (Scherztablette). Auch sagt er z.B. immer "anstatt" statt "statt dessen", und manchmal musste ich schmunzeln, weil ich die Übersetzung sehr gelungen fand und die Darstellung der einzelnen Begriffe und Formulierungen sehr realistisch.

Außerdem personifiert er die meisten Objekte (was gesunde Fünfjährige wohl auch tun, aber keinesfalls in diesem Ausmaß, was ein Zeichen von Jacks Deprivation ist). So spricht er von Pflanze auf Schrank, er guckt aus Oberlicht, er schläft auf Teppich und spielt mit Eierschlange. Das ist anfangs niedlich (und erschreckend, wenn man den Grund dafür bedenkt), mit der Zeit wurde es für mich anstrengend, und nach etwa der Hälfte des Buches überlas ich es dann einfach und störte mich nicht mehr daran.


PERSÖNLICHE MEINUNG

Ich habe viel Gutes über das Buch gehört, mich zuvor aber nicht zu intensiv damit befasst, um keinen Spoiler zu erhalten. Deswegen hatte ich die Befürchtung, das Buch könnte möglicherweise voyeuristisch sein oder einfach nur auf einer Welle mitreiten, wo doch inzwischen immer mehr Fälle dieser Art bekannt werden. Dies war zum Glück nicht der Fall. Das Buch mag durch einen solchen Fall inspiriert sein, befasst sich jedoch einzig und allein mit der Wahrnehmung des betroffenen Kindes. Und diese hat mit Voyeurismus, Vergewaltigung, Folter, Freiheitsberaubung und dergleichen Dingen nichts zu tun.


FAZIT

RAUM ist ein Buch, das man kaum beschreiben kann. Man muss es erleben, um es zu begreifen und zu verstehen. Man muss bereit sein, sich auf die Sichtweise des Kindes einzulassen, darf nicht analysieren. Und man muss akzeptieren, dass gerade das, was viele eigentlich lesen wollen, in diesem Buch nicht zu finden ist, einfach weil es Jack nicht interessiert. Lasst Euch von Jack an die Hand nehmen, und er wird Euch zu vielen neuen faszinierenden Entdeckungen führen, wird Euch lehren, die Welt vorübergehend mit den Augen eines Kindes zu sehen.

SaschaSalamander 27.10.2011, 09.02 | (1/1) Kommentare (RSS) | PL

Hiki

nangoku_hiki_1.JPGRin findet in einer Schublade eine Schatzkarte, die aussieht wie eine seiner Zeichnungen aus Kindertagen. Neugierig macht er sich mit seinem Freund Yada auf die "Schatzsuche", und tatsächlich finden sie am gezeichneten Punkt eine alte Kommode. Rin durchsucht sie, kann jedoch nichts darin finden. Doch seit diesem Moment geschieht etwas Unheimliches: wannimmer Rin versucht, irgendwo etwas herauszuziehen, hält er den Kopf eines Mädchens mit langen schwarzen Haaren in seiner Hand.

Es ist nicht leicht, denn ständig muss man im Alltag etwas herausziehen: die Schulkleidung aus dem Turnbeutel, einen Kopfhörer aus dem Ohr, ein Taschentuch aus der Hose, ein Schulbuch aus der Tasche. Rin wird darüber fast wahnsinnig und versucht herauszufinden, wer dieses Mädchen sein könnte und warum es ihn nun verfolgt.

Puuuh, ganz schön gruslig! Dieser Manga ist zwar in einer halben Stunde gelesen, kann zeitlich also nicht mit einem Asiahorrer von zwei Stunden mithalten, aber inhaltlich kommt er ziemlich gut an diesen Grusel heran, alle Achtung! Der Horror baut sich recht schnell auf, woher stammt die alte Zeichnung, und warum steht genau dort eine Kommode? Der Leser sieht, wie Rins Hand in der Kommode wühlt und sieht bereits den Kopf des Mädchens, ekelt sich, als Rin ihr zerzaustes Haar berührt und nicht weiß, was er da zwischen den Fingern spürt. Und sobald Rin seine Hand in irgendeine Öffnung steckt, zuckt der Leser zusammen und ahnt, was ihn nun erwarten wird, beißt die Zähne zusammen, will nicht hinsehen, und wie bei einem guten Horrorfilm sieht man hin, obwohl man sich wünscht, man hätte es nicht gesehen.

Die Zeichnungen sind wirklich großartig, sie drücken den Horror sehr gut aus, die Bilder sind eklig und unheimlich, der Stil ist insgesamt sehr gut. Hintergründe, Gesichter, Details, all dies ist realistisch gehalten und erzeugt zusätzliche Bilder im Kopf des Lesers, der sich sofort in die Geschichte hineinversetzen kann.

Und wie bei einem guten Asiahorror üblich: fragt bitte nicht nach dem Sinn. Es ist ein Mindfuck, und am Ende gibt es eine Lösung, die im Grunde dennoch keine Lösung ist, weil sie viele Optionen offen lässt. Was ist nun wirklich geschehen? Konnte Rin das Rätsel lösen, auch wenn seine komplette Umwelt ihn für wahnsinnig hält? Oder wurde Rin tatsächlich wahnsinnig und bildet sich nur etwas ein, während alle anderen die Wahrheit sehen? Verstörende Bilder, fernab jeglicher Realität, Wahngebilde, Kreaturen aus einem kranken Geist, wie man ihm eigentlich fast nur in asiatischen Horrorfilmen begegnet. Kein Blut, keine Gewalt, aber jede Menge Spannung und Gänsehaut. Die nächsten Wochen werde ich wohl kaum ohne einen kleinen Schauer irgend etwas herausholen können ...

Einzig der Titel irritiert mich, da nichts dazu erklärt wird, ich wüsste gerne, was er bedeutet, das ist aus dem Inhalt nicht ersichtlich, eine Übersetzung wird nicht genannt. Aber das ist kein Drama, das bin ich in diesem Genre gewohnt.

Sicher ist: zartbesaitete Leser sollten diesen Manga definitiv meiden. Und auf dem Nachttischlein sollte er auch nicht unbedingt liegen, wenn man ruhig schlafen möchte. Also: bist Du mutig genug, traust Du Dich, das Geheimnis der Kommode zu lüften? ;-)

Ich habe leider keinen Hinweis darauf gefunden, dass dieser Manga die Umsetzung eines Romanes ist, sonst würde ich diesen sofort lesen wollen! Mit bekannten Titeln wie DARK WATER, JU-ON oder THE RING kann dieser Manga allemal mithalten, und ich hoffe, dass er vielleicht sogar eines Tages verfilmt wird.

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Unqualifiziertes PS, das ich mir nicht verkneifen kann: der Junge muss doch wahnsinnig werden, allein wenn er schon auf Toilette geht und etwas herausholt, das nicht  ... sondern ein fremdes Mädchen ist! Aber gut, das wurde im Manga nicht gezeigt, ... wie gesagt: unqualifiziertes Kommentar zum Abschluss ;-)

SaschaSalamander 18.10.2011, 09.15 | (0/0) Kommentare | PL

Sieben Minuten nach Mitternacht

VORABGEDANKEN

Normalerweise habe ich beim Lesen eines Buches bereits Gedanken im Kopf, was ich in die Rezension schreiben möchte. Dieses Mal nicht, ich fühle mich leer. Das Buch hat mich komplett eingenommen, sodass ich an nichts anderes denken konnte währenddessen. Und ich weiß auch nicht wirklich, wie ich das, was ich nun fühle, in Worte fassen soll. Manchmal fällt es so unendlich schwer, seinen Gedanken Gestalt zu verleihen. Es gibt Dinge, die man selbst erleben muss, weil andere sie nicht erzählen können. Und doch hat der Autor in diesem Buch es geschafft, unaussprechliche Gefühle in klare, kindgerechte Worte zu packen. Ich ziehe meinen Hut vor dieser Meisterleistung und möchte SIEBEN MINUTEN AN MITTERNACHT als ein ganz besonderes Buch für Leser aller Altersklassen empfehlen.

Die letzten beiden Kapitel dieses Buches musste ich mehrfach unterbrechen. Ich musste sosehr weinen, dass der Text vor meinen Augen verschwamm, und ich hätte gerne laut aufgeschrien über die Ungerechtigkeit, und zugleich fühlte ich mich so erleichtert und frei, als zum Schluss endlich die Wahrheit ausgesprochen wurde und das Buch zwar kein glückliches aber ein erlösendes Ende fand.


VORGESCHICHTE DES BUCHES

Patrick Ness ist Literaturkritiker beim GUARDIAN. Siobhan Dowd war Redakteurin und freischaffende Autorin, sie verstarb 2007 an Krebs. Zuvor erarbeitete sie das Exposé des vorliegenden Buches, doch sie kam nicht mehr zu ihrer Ausarbeitung. Dies hat Patrick Ness für sie übernommen, er erzählt im Vorwort die bewegende Geschichte dieses Buches.


INHALT

Conor hat jede Nacht einen schrecklichen Albträum. Und um 00.07 kommt das Monster, er fürchtet sich. Bis er sieht, dass das Monster nach Mitternacht gar nicht das Wesen aus seinem Albtraum ist. Das Monster macht ihm keine Angst, denn er hat schon viel schlimmere Dinge gesehen, und so beginnt eine seltsame Freundschaft zwischen den beiden. Bald beginnt das Monster Conor drei Geschichten zu erzählen. Der Junge versteht den Inhalt der Geschichten nicht, und die vierte Geschichte soll er erzählen, denn in ihr steckt die Wahrheit. Der Grund, warum das Monster ihn jede Nacht besucht. Doch vor dieser Wahrheit hat Conor Angst:

Conors Mutter leidet an Krebs, sie hat die Hoffnung nicht aufgegeben, doch bald wird sie sterben. In der Schule wird der Junge deswegen gemieden, die Lehrer fassen ihn mit Samthandschuhen an, er wird von Mitschülern gemobbt, seiner Freundin kann nicht verzeihen, dass sie damals den anderen von der Krankheit seiner Mutter erzählte. Er ist alleine, sein Vater ist in Amerika, und seine Großmutter mag er nicht. Das Monster ist gekommen, um ihm zu helfen. Aber helfen wobei? Kann es seine Mutter gesund machen? WOBEI das Monster ihm helfen will, erfährt Conor erst am Schluss, als er endlich in der letzten Geschichte die Wahrheit aussprechen muss.


ERZÄHLSTIL

Die Geschichte ist in sehr schlichten, kindgerechten Worten erzählt. Kurze Sätze, die umso eindringlicher auf den Leser wirken. Keine Fremdwörter, keine komplizierten Formulierungen. Dafür ein umso intensiverer Text, dessen Inhalt sich gerade jüngeren Lesern nicht unbedingt sofort erschließt. Aber das ist in Ordnung, denn auch Conor gibt zu, dass er die Geschichten nicht versteht. Erst am Ende erschließt sich die komplette Bedeutung, als der Leser Conors Albtraum erfährt. Und dieser ist weit schlimmer als das Mobbing, als der nahende Tod, als die mitleidigen Blicke der Lehrer.

Gerade, weil dieses Buch so schlicht geschrieben ist, berührt es so tief. Der Leser, gleichwelcher Altersklasse, kann sich problemlos in Conor hineinversetzen, spürt mit ihm die Hilflosigkeit, die Wut, die Angst. Und noch ein starkes Gefühl, welches ich nicht verraten möchte, weil es erst am Ende zur Sprache kommt. Es hängt unausgesprochen über dem ganzen Buch, der Leser spürt es, will es jedoch ebenso wie der Junge nicht wahrhaben, weil die Wahrheit so schmerzlich ist und weil es ein Tabuthema innerhalb des Themas sterbende Angehörige ist.


BILDER

Die Bilder empfinde ich persönlich als sehr beängstigend aber dennoch kindgerecht, da sie sehr von der jeweiligen Interpretation abhängig sind. Dürre Äste, dunkle Wälder, ein riesiger Baum-Mann, zerstörte Ruinen einer Kirche, alles in Schwarz, Weiß und Grau. Bilder, die direkt aus Conors Albtraum zu kommen scheinen. Keine klar umrissenen Konturen sondern Silhouetten, Schemen, bedrohliche Klauen, die aus der Dunkelheit nach dem Leser greifen. Sie passen sehr gut zu dem entsprechenden Text und unterstreichen die Kernaussage der jeweiligen Kapitel, vermitteln eine sehr gute Atmosphäre.

Manche Bilder sind auf einer kompletten Doppelseite vertreten, andere Bilder sind um den Text herum gemalt, der Text in die Zeichnung integriert, verwoben zu einer Gesamtheit, die Geschichte in einen passenden Rahmen setzend.


PÄDAGOGISCHER ASPEKT

Es ist harter Tobak, auf jeden Fall. Und manch einer wird sagen "das kann man einem Kind nicht zumuten". Kann man nicht? Man kann. Denn einem Kind wird es auch zugemutet, dass die Mutter stirbt, das ist tägliche Realität. Und es ist wichtig, dass Kinder sich mit solchen Themen auseinandersetzen. Conor litt in dem Buch vor allem darunter, dass die Lehrer nur mitleidig wegblickten, dass die Eltern ihm das wahre Ausmaß der Krankheit verschwiegen, dass die Großmutter ihn nicht für seine bösen Taten bestrafte. Und so wie Conor geht es vielen Kindern, die doch eigentlich darüber reden möchten. Die begreifen wollen, was geschieht. Die ihre Gefühle nicht aussprechen können, wenn die Erwachsenen um sie herum die Wahrheit leugnen. Und die Gefühle sind nicht schön, sie sind urgewaltig, glühend und mächtig, so wie das Monster. Kinder brauchen einen Erwachsenen, der sie an die Hand nimmt, der mit ihnen über Schuld, Verantwortung, Trauer, Angst, Wut, Zorn, Hass, Hilflosigkeit redet. Sie müssen erfahren, dass diese Gefühle gestattet sind, und dieses Buch kann ihnen dabei helfen, endlich über das Unaussprechliche zu reden, wofür die Erwachsenen keine Worte haben.

Allerdings sollte man gerade jüngere Kinder nicht alleine mit diesem Monster lassen. Es werden sehr viele Fragen hervorbrechen, und nicht auf alles wird es eine Antwort geben. Die Geschichten sind stellenweise verwirrend, und es wäre vielleicht sogar gut, wenn der Vorleser das Buch zuvor selbst gelesen hat, um den Inhalt der Geschichten im Gesamtkontext zu begreifen und dem Kind Fragen zu beantworten, die erst im späteren Verlauf der Handlung erklärt werden.


FAZIT

Dem Autor ist es gelungen, unaussprechliche Gefühle in greifbare Worte zu verpacken. Siobhans Geschichte, Patricks Umsetzung, das wurde zu einem ganz besonderen Buch, das ich nie wieder vergessen werde ...


SaschaSalamander 17.10.2011, 09.16 | (0/0) Kommentare | PL

Darf ich meine Oma selbst verbrennen

wilhelm_oma_1.jpgVORABINFO

Mit GETATTEN, BESTATTER veröffentlichte der Autor des erfolgreichen >Bestatterweblogs< im Dezember 2009 sein erster Buch. Wie auch schon in seinem Blog erzählte er unterschiedlichste Begebenheiten aus dem Alltag eines Bestatters, ich habe es damals begeistert gelesen und habe auch sonst nur allerbeste Rückmeldung bekommen. Er scheint eine "Marktlücke" entdeckt zu haben, oder besser gesagt, eine "Bedürfnislücke". Sterben ist ein Tabuthema. Jeder Mensch ist mehrfach in seinem Leben damit konfrontiert, wenn Angehörige oder Freunde von uns gehen. Doch es wird außer zu diesem Anlass kaum darüber gesprochen. Unzählige Mythen haben sich entwickelt, viele Fragen bleiben offen, und an wen kann man sich wenden in seiner Unsicherheit?


INHALT, AUFBAU

Peter Wilhelm schreibt nicht nur von seinen Klienten, von den Toten, von seinen Kollegen, seiner Familie, der Praktikantin und anderen Lebenden und Toten, sondern er geht auch auf seine Blogleser ein. Er beantwortet Fragen teils auch öffentlich, wenn sie von allgemeinem Interesse sind. In GESTATTEN BESTATTER erzählte er eher aus dem Alltag, ließ die Leser an vielen humorvollen, skurrilen, bewegenden oder schockierenden Momenten seines Berufslebens teilhaben.
In DARF ICH MEINE OMA SELBST VERBRENNEN hat er das Buch in drei Teile gegliedert:

Zuerst beantwortet er Fragen von Lesern, mal humorvoll, mal ernst. Im zweiten Teil lässt er den Leser an erzählenswerten Telefongesprächen teilhaben, die er mit Angehören führte. Abschließend gibt er vereinzelte Dialoge wieder, an denen er teilhatte oder deren Zeuge er wurde, während Angehörige über die Bestattung diskutierten. Das Ganze natürlich ein wenig "dramaturgisch aufgearbeitet", sodass er den Sinn und Inhalt widergibt ohne jedoch einen Kunden erkenntlich bloßzustellen.


SCHREIBSTIL, INFOTAINMENT

Es tut gut, dass der Autor so offen und vor allem unbefangen über dieses Thema spricht. Zwischen all den skurrilen Momenten gibt es sehr viele ernsthafte Fragen, sodass zwischen dem Humor und der Tragik des Buches auch sehr viel Wissen vermittelt wird. Seien es Mythen wie die wachsenden Haare des Verstorbenen oder das tödliche Leichengift, oder seien es auch wichtige Belange wie etwa die Besonderheiten einer Seebestattung, die Frage ob man Angehörige selbst unter die Erde bringen darf, welche Unterlagen beim Amt alles vorgelegt werden müssen, welchen Sinn eine Sterbeversicherung erfüllt, ob und wie man im Voraus seine eigene Beerdigung planen kann, und viele Dinge mehr. Dabei besteht ein Kapitel aus einer Frage und einer entsprechenden Antwort. Manchmal kann dies über mehrere Seiten gehen, meist jedoch ist es sehr kurz auf einer halben Seite beschrieben. Gerade deswegen lässt man sich leit verleiten, wenigstens schnell noch die nächste Episode zu lesen, und auf einmal hat man das Buch beendet, obwohl man vermeintlich gerade erst begonnen hat. Und das, obwohl es um ein solch vermeintlich langweiliges Thema wie die Arbeit eines Bestatters geht.

Als Bestatter hat der Autor gelernt, Menschen mit Respekt zu behandeln, und dies merkt man dem Buch an. Es ist spannend zu lesen, welche Gedanken die Menschen beschäftigen, wenn es um das Thema Tod geht. So stellt sich jemand die Frage, ob er ein amputiertes Bein bestatten lassen darf, ein anderer wüsste gerne, ob man das geliebte Haustier mit beerdigen darf (das sowieso krank ist und eingeschläfert werden müsste). Auch ist es "nett" zu erfahren, wie dringend die Sterbefälle sind und wie wenig dringend sie plötzlich werden, wenn der Zeitpunkt der Abholung sich mit der Sportschau überschneiden würde. Dringend wird es dagegen allerdings tatsächlich, wenn in einer Stunde Schlüsselübergabe an den Nachmieter stattfinden soll und der Tote noch in der Wohnung liegt. Und doch bleibt Peter Wilhelm stets gesetzt und würdevoll, sogar wenn die Witwe auf das unpassende Deckchen im Farbton "Rosa Luxemburg" besteht oder eine antiallergene Sargausstattung gewünscht wird.

Das Buch ist keinen einzigen Moment spröde oder trocken, niemals wird der Zeigefinger erhoben (wenngleich man die persönliche Meinung des Autoren deutlich heraushört, doch diese ist sympathisch und nachvollziehbar, selbst wenn er manchmal ironisch wird). Es ist schwer zu beschreiben, wie unglaublich fesselnd er sein Buch geschrieben hat. Die ernsthaften Themen sind zu lang, als dass ich sie in die Rezi einbinde, deswegen in aller Kürze meine zwei Favoriten unter den vermutlich wenig ernstgemeinten Anfragen:

S. 83
Frage: Ein Mann kommt zu Ihnen und will seine Schwester beerdigen lassen, also jetzt die Frau von seinem Bruder. Geht das in einem Reihengrab, oder müssen die Feuerbestattung nehmen?
Antwort: Ja.

S. 33
Frage: Mal eine besondere Frage, die mich und meinen Freund sehr beschäftigt. Hast Du schon mal einen Sarg mit einem Vampir beerdigt? Bitte antworten, ist kein Spaß!!!
Antwort: Vampire bekommen immer ein Urnenbegräbnis, weil durch das Kellerfenster Sonnenlicht in unseren Behandlungsraum fällt und die Vampire dabei stets zu Staub und Asche zerfallen. Ist wirklich so, ist kein Spaß!!!


FAZIT

Sterben ist ein ernstes Thema, aber noch nie wurde es humorvoller und sinnreicher aufbearbeitet als von Peter Wilhelm. Ein ideales Buch, ob nun als Geschenk oder für sich selbst, ob für die gesellige Runde oder auch gemütlich alleine auf dem Sofa. Infotainment, wie es besser nicht sein könnte.

SaschaSalamander 06.10.2011, 09.02 | (0/0) Kommentare | PL

Crimson Spell 01

yamane_crimsonspell01_1.jpgFINDER ist inzwischen kein Geheimtip mehr für Freunde von deftigen YAOI-Mangas. Von der gleichen Mangaka erschien vor einiger Zeit auch CRIMSON SPELL, ebenfalls ein YAOI. Selbst hatte ich noch nichts von ihr gelesen, aber schon viel von Freunden darüber gehört. Inzwischen bin ich Shonen Ai und Yaoi fast über, der Markt wird überschwemmt, es gibt zuviel Mainstream, jungen Mädchen wird mit leckeren Jungs das Geld aus der Tasche gezogen. Deswegen gebe ich zu, dass ich an CRIMSON SPELL eher geringe Erwartungen hatte. Umso erstaunter und begeisterter war ich dann nach dem Lesen des ersten Bandes!

Prinz Valdrigue (kurz Vald) macht sich auf eine Reise, um den Fluch eines magischen Schwertes zu brechen. Er trifft auf den Magier Halvir, der von ihm als Gegenleistung Schutz bei der Suche nach einem besonderen Artefakt verlangt. Halvir entdeckt, dass der Fluch des Schwertes darin besteht, dass Vald sich nachts in ein wildes Monster verwandelt, und dieses Monster ist ziemlich lüstern. Halvir will dieses Monster zähmen ...

Vorab ist erst einmal zu erwähnen, dass Yaoi über Shonen Ai / Boys Love hinausgeht. Yaoi hat wenig mit Romantik zu tun, hier wird nicht verschämt geküsst und ein bisschen gestreichelt. Bei Yaoi geht es um pures Ausleben sexueller Triebe, man sieht Geschlechtsteile und alles, was damit angestellt wird, nicht hübsch versteckt unter einem Kimono oder schemenhaft skizziert, sondern in aller Deutlichkeit. YAOI steht für Yamanashi Ochinashi iminasi, was soviel heißt wie "ohne (inhaltlichen) Höhepunkt, ohne Pointe, ohne Sinn" (es gibt eine weitere Bedeutung, die befasst sich mit den körperlichen Nachwehen des Aktes und wird hier von mir zensiert *vg*). Dementsprechend ist natürlich die Handlung schmückendes Beiwerk, bei schlechten Titel ein Alibi, bei guten Titeln eine eigene spannende Geschichte, Hauptaugenmerk liegt auf dem Aussehen der Charaktere und dem, was sie miteinander anstellen.

Die Handlung in diesem Fall finde ich für einen YAOI recht nett. Eine spannende Fantasystory, die zwar eher dünn gesät ist aber doch nette Momente bietet und sich geschickt um die Handlung webt. Die Reise der beiden Protagonisten ist in ruhigen Tönen erzählt, der Ausgleich aus ruhigen Momenten und Action ist perfekt gehalten und in sich schlüssig, und auch ohne die Sexszenen finde ich die Story interessant erzählt und würde die Folgebände weiterkaufen.

Dazu tragen auch die wundervollen Zeichnungen bei. Die Proportionen passen perfekt (gerade Hals, Arme, Hände, Finger sind oft zu dürr oder unproportional, wenn die Zeichnerinnen es besonders hübsch aussehen lassen wollen, aber Yamane gelingt es perfekt, das Maß zu halten). Ebenfalls gelungen: sobald es intim wird, bleibt die Szene dennoch übersichtlich, man weiß noch immer genau, welches Körperteil zu wem gehört und wer was gerade tut (auch hier: leider ein häufiger Makel bei vielen Yaoi, der mich ziemlich stört. Ich möchte schon gerne wissen, wer gerade was mit wem anstellt, und zwar bitte detailliert, sonst könnte ich auch Shonen Ai lesen).

Auch die nichtsexuellen Szenen sind hervorragend gezeichnet, Yamane hält sich an das Wesentliche, sie füllt die Bilder nicht mit unnötigen Hintergründen, der Blick konzentriert sich auf das Wesentliche: die Gesichter und Körper der Charaktere, und natürlich sind nicht nur die Protagonisten hübsch, sondern der Manga strotzt nur so von Bishonen, einer leckerer als der andere.

Der Humor kommt nicht zu kurz, viele Chibi und SD Elemente sind enthalten, der kleine Dämon Lizregbel in Gestalt eines ultraplüschigen Hasen sorgt für witzige Momente und wird die beiden hoffentlich auch in den nächsten Bänden begleiten.

Insgesamt ein Manga, der sich deutlich aus der Masse hervorhebt und den ich zukünftig auf die Liste meiner Empfehlungen setzen werde, wenn mich jemand nach wirklich guten Yaoi fragt :-)


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Im Nachtrag noch ein Link: im >Spiegel Online< wird berichtet, wie es zur Indizierung des ersten Bandes der Serie FINDER kam. Ich finde es immer interessant, wie Szenen entsprechend gewertet werden. Nicht direkt bezogen auf CRIMSON SPELL, aber aus gleicher Feder, daher hier trotzdem passend :-)

SaschaSalamander 01.09.2011, 08.49 | (2/2) Kommentare (RSS) | PL

Mach mich geil

palmer_machmichgeil_1.jpgVon Lucy Palmer (aka Inka Loreen Minden) gibt es bei Blue Panther Books eine Reihe namens MACH MICH ... (gierig, geil, scharf, wild), da es Kurzgeschichten sind und die Reihenfolge egal ist, ich habe mit dem letzten Titel "Mach mich geil" begonnen. Eigentlich bevorzuge ich Gayromane oder BDSM - Titel, "normale" Erotik bringt mich meist unfreiwillig zum Lachen und ist einfach nicht mein Ding, wenn die Autoren sich angestrengt um saubere Worte für körperliche, schweißtreibende und unsaubere Dinge bemühen. Dass ich diesen Titel nun doch gelesen habe, liegt an der Autorin, die mich vor allem durch ihre Sprache begeistert, also warum nicht auch mal ein Buch über das probieren, was im Alltag so schön und in der Literatur so albern sein kann?

MACH MICH GEIL beinhaltet die fünf Kurzgeschichten "Insel der Begierde", "Führe mich nicht in Versuchung", "Arena der Lust", "Lady Cop" und "der maskierte Lord". Der maskierte Lord hat noch einen zweiten Teil, den man sich kostenlos im Internet herunterladen kann. Führt bei manchem Leser zu Begeisterungsstürmen, da man gratis noch etwas geschenkt bekommt. Führt bei anderen zu Verärgerung, sie legen sich einen Fakeaccount auf der Seite zu und laden sich die Geschichte runter, schließlich hat man ja als Besitzer des originalen Buches ein Anrecht auf die Story, der Verlag jedoch nicht auf die persönlichen Daten).

Es war eines der ersten "normalen" Erotikbücher, die ich komplett gelesen habe (jetzt dürft Ihr von mir denken, was Ihr wollt *vg*, aber die meisten habe ich aus oben genannten Gründen abgebrochen), und ich war wirklich positiv überrascht. Lucy Palmer hat mich nicht enttäuscht, und so wortgewandt sie die Liebe zwischen Männern zu schildern vermag, so geschickt ist sie auch im Umgant mit Worten zwischen Mann und Frau. Keine Honigtöpfchen und Liebessäfte, aber auch kein F*cken und R*mmeln, sondern eine geschickte Umschreibung, die sich flüssig liest und Lust auf mehr macht. Weder vulgär noch albern schicklich bemüht, sondern einfach lustvoll. Lucy Palmer schreibt so selbstverständlich, dass man sich fragt, warum andere Autoren sich so verzweifelt um Worte bemühen, alles wirkt selbstsicher und normal. Es ist, was es ist: Liebe, Lust und Leidenschaft.

"Ladycop" geht in den Soft-SM Bereich und bietet nette Ideen für ein spannendes Rollenspiel mit Unterwerfung und Züchtigung. "Führe mich nicht in Versuchung" ist die vierte Geschichte um den Vampir Riley. Ich kenne die ersten drei Teile, die nacheinander in den MACH MICH - Büchern erscheinen nicht, und trotzdem konnte ich sie in vollen Zügen genießen, jede Geschichte steht für sich und ist eher ein freudiges Wiedererkennen für Stammleser der ersten Bände.

Mein Favorit "Arena der Lust" handelt von einer jungen Frau, die aus einer Zukunft ohne körperlichen Sex mittels einer Zeitmaschine in die Vergangenheit reist und dort zwei Gladiatoren zu einer Menage-a-Tr*is aufsucht. Die Geschichte bietet von allem etwas: sie ist romantisch, hat ein paar vereinzelte angedeutete SM-Elemente, sie bietet Gay-Erotik, Hetero-Liebe, Zweier, Dreier, ein bisschen Voyeurismus und sie vermischt Erotik mit Science-Fiction wie auch Historie. Erstaunlich, wie die Autorin auf so wenigen Seiten so viele Themen einbringen konnte, ohne dass die Geschichte überladen wirkt. Sogar auf einen kleinen Twist am Ende darf sich der Leser freuen, denn Zeitreisen haben manchmal (un?)gewollte Nebenwirkungen ;-)

Abschließend nur soviel: Was andere Autoren versprechen - Lucy hält es!

SaschaSalamander 29.08.2011, 09.14 | (1/0) Kommentare (RSS) | PL

CLARA

somoza_clara_150_1.jpgMir ist zu heiß zum Lesen. Damit der Blog nicht komplett leer ist, hier eine meiner älteren Rezensionen, die ich noch nicht eingestellt hatte. Eines der wenigen Bücher, das den dauerhaften Weg in mein Regal gefunden hat :-)

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Es ist nun also schon ein paar Wochen her, dass ich Clara gelesen habe, mir fehlte die Zeit für eine Rezension, und doch möchte ich gerade dieses Buch auf jeden Fall hier vorstellen. Ich hoffe, die Faszination, welche ich beim Lesen empfand, noch genauso gut an Euch weitergeben zu können wie direkt nach dem Lesen normalerweise ...

Das Buch spielt in einer sehr nahen Zukunft, einziger Unterschied zur Gegenwart ist eine neuentstandene Kunstrichtung, die Hyperdramatik. Menschen werden als Leinwand genutzt, sie werden vorbereitet (imprägniert, mit Chemikalien innerlich und äußerlich zurechtgemacht für bessere Eignung, z.B. verminderter Harndrang, keine Flüssigkeitsbildung, bessere Gelenkigkeit) und dann von einem Künstler bearbeitet. Das heißt, sie werden in Pose gebracht, werden seelisch und körperlich nach dem Wunsch des Meisters geformt. Und so müssen sie dann viele Stunden am Tag bewegungslos stehen.

Clara ist eine Leinwand, und ihr Glück ist perfekt, als sie endlich in den Auftrag eines weltberühmten Künstlers genommen wird. Und während Clara ihrer Bearbeitung harrt, laufen parallel Ermittlungen in einer grausamen Mordserie, welche berühmte Originale genau dieses Künstlers zerstört. Der Kommissar versucht den Täter zu fassen, der vermutlich aus dem Kunstmilieu stammt. Die neue Ausstellung des großen Malers steht an. Wer ist schneller - der Kommisar oder der Täter?

Der Inhalt des Buches ist sehr schwer zu beschreiben, denn im Grunde ist hiermit, was ich schrieb, alles bereits gesagt. Und doch füllt das Buch 600 Seiten. Diese beschäftigen sich zwar ab und zu mit dem Privatleben von Clara oder der Jagd der Polizei nach dem Täter, aber die meiste Zeit wird genutzt, um Hyperdramatik zu inszenieren und dem Leser einen Einblick in diese faszinierende Welt der Kunst zu bieten. Denn auch, wenn jetzt viele beim Lesen meiner Zeilen an die lebenden Statuen in der Altstadt dachten oder an hübsches Bodypainting, hat dieses mit der im Buch präsentierten Kunst sogut wie gar nichts gemeinsam. So, als würde man das Gekritzel eines Zweijährigen mit der großen Kunst von Rembrandt oder Dali vergleichen.

Und genau DAS macht dieses Buch aus: man KANN nicht in einer kurzen Rezension oder im Gespräch miteinander einfach mal so nebenbei beschreiben, was der Autor entworfen hat. Es ist ein Gesamtbild, welches sich auf 600 Seiten nach und nach entwickelt, es ist eine Kunstform, die einzigartig ist. Erschreckend, menschenverachtend, und doch wunderschön, ästhetisch, faszinierend. Die Entmenschlichung der Leinwände, die Formung durch den Künstler, das Zusammenspiel von Mensch und Objekt, es ist nicht in Worte zu fassen. Auch die subtile Erotik lässt sich nicht beschreiben, nirgends wird es offensichtlich sexuell, und doch prickelt dieses Buch vor Lust und Hingabe, Sich-Fallenlassen, Unterwerfung, Macht, man könnte es schon beinahe als einen Fetischroman beschreiben, und doch ist es einer der ganz wenigen modernen Romane, die ohne Sex auskommen.

Dies erfordert jedoch, dass der Leser bereit ist, sich auf das Buch einzulassen. Wer einen spannenden Krimi oder gar Thriller erwartet, der von einer Seite zur anderen kaum atmen lässt, sollte definitiv die Finger von Clara lassen. Denn dieses Buch ist Poesie und Kunst. Es ist filigran, gnadenlos und erschütternd. So kann der Autor etwa viele unzählige Seiten darauf verwenden nur zu beschreiben, wie Clara regungslos am Fenster steht. Er beschreibt von außen und innen das "Nichts" und doch die Fülle, welche die Leinwand beherrscht.

Ein Problem im Buch fand ich die vielen Charaktere, und zwischendurch wäre ein Dramatis Personae nicht schlecht gewesen. Hier also der Tip, sich eines anzulegen beim Lesen, sonst verliert man schnell den Überblick ;-)

Ansonsten gäbe es noch so viel zu sagen, und doch könnte ich mit all meinen Worten nicht beschreiben, wie wunderbar dieses Buch ist und was seinen Zauber ausmacht. Ich kann es nur jedem, der sich als Ästhet und Leseratte sieht, ans Herz legen. Und er wird sich am Ende wünschen, er könnte es noch einmal lesen, oder dieses Buch möge nie enden.

SaschaSalamander 22.08.2011, 20.52 | (0/0) Kommentare | PL

Hunde der Welt

Da ich Hunde schon immer geliebt habe, konnte ich bei >BloggDeinBuch< nicht an dem Titel >HUNDE DER WELT< aus dem >Ulmer-Verlag< vorbeigehen. Schon das Cover machte mich neugierig auf den Inhalt. Ich zitiere ausnahmsweise den Klapptentext, da ich bei diesem Bildband keine klassische Inhaltsangabe machen kann wie bei einem Roman.

Seit Jahrtausenden lebt der Hund mit dem Menschen. Er folgte ihm in die entlegensten Winkel der Erde und eignete sich die unterschiedlichsten Fähigkeiten an. Dieser Bildband unternimmt einen Streifzug rund um die Welt und spürt dabei beeindruckende Hunderassen auf. Sloughis in Marokko zum Beispiel, edle Windhunde, die einst Beduinen auf der Falkenjagd begleiteten. Oder Hütehunde in Tibet, die seit je die Nomaden und ihre Herden beschützen.

Das Buch zeigt das Wesen der jeweiligen Rasse und ihre oft exotische Umgebung: die karge Landschaft der Lofoten, wo Lundehunde in den Klippen jagen genauso wie den Dschungel von Papua Neuguinea, wo Dingos um die Dörfer streunen. Nach der Lektüre dieser Reportagen weiß man, dass die enge Bindung zwischen Hund und Mensch ein weltweites Phänomen ist - auch wenn sie sich auf sehr verschiedene Weise äußert.


FOTOS

Das wichtigste bei einem Bildband sind natürlich die Bilder. Ich hatte offen gesagt mit weniger Text gerechnet, war aber umso erfreuter, als ich sah, dass sehr viele Informationen über die einzelnen Hunderassen zu finden sind. Dennoch stehen die Bilder für sich und benötigen im Grunde keiner Worte.

Als ich das Buch aufschlug, sah ich nicht nur Hunde, sondern eine Menge Landschaft, Mensch und Tier, was in mir das Fernweh weckte: ein Zelt in der Tundra Sibiriens, wo eine Mutter und ihr Sohn den Alltag verbringen. Ein prachtvoller Treppenaufgang zu einem Anwesen in Marokko. Eine DoppelseiteLandschaft mit Hütten, Flusslauf und viel Grün in Papua-Neuguinea. Eine Reiterin, welche mit ihrem Pferd über ein Hindernis springt. Ein vollgestopfter Lebensmittelladen in Vietnam. Portraits eines Einwohners des entsprechenden Landes. Spielende Kinder. Weite, Meer, Wüste, Nashörner, Pferde, Rentiere, Schafe. Mal mit, mal ohne Hund.

Den Großteil allerdings machen natürlich die Hunde aus, die entsprechenden Bilder ohne Hunde allerdings zeigen einen Ausschnitt des Alltagslebens und vermitteln einen sehr guten Eindruck davon, wo und wie die Tiere in dem entsprechenden Land leben, mit welchen natürlichen Gegebenheiten sie umgehen müssen, etwa auf einem Baumhaus in West-Papua oder auf den kargen Klippen auf den Lofoten.

Die Fotos sind wunderschön eingefangen, ich könnte mich in dem Buch verlieren, seit ich es habe, blättere ich täglich darin und freue mich an den hübschen Motiven. Die Bilder sind sehr emotional und dürften wohl das Herz eines jeden Hundefreundes höher schlagen lassen. Mal sieht man die Hunde bei der Arbeit in Aktion, mal in der Gruppe gemeinsam beim Tollen, ein andermal mit dem geliebten Menschen, oder auch einfach lässig zwischen einer Menschenansammlung ohne direkten Bezug. Aber, wie gesagt, sie wecken das Fernweh, man sollte gerade nicht zu wehmütig gelaunt sein, wenn man durch die Seiten blättert, sonst verstärkt es das nur (wie mir an diesem Tag leider geschehen, denn die Bilder gehen zumindest für mein Empfinden tatsächlich sehr nahe, sie drücken sehr viel aus und berühren auch ohne Worte).


BERICHTE

Die Berichte sind sehr interessant zu lesen. Ich empfinde HUNDE DER WELT allerdings nicht als "Buch", das ich "lese", sondern ich blättere eher darin. Und wenn mich aktuell ein Bild anspricht, dann lese ich den zugehörigen Text und freue mich über das, was ich neu erfahren habe. Ich genieße das Buch in kleinen Happen, immer wieder.

Ein einzelnes Kapitel ist ungefähr 10 Seiten lang, bestehend aus sehr vielen Bildern und rund dreiseitigen begleitenden Text. Hierin wird die Historie der Hunderassen beschrieben (welchen Zweck erfüllte er damals, welche Geschichten erzählt man sich über ihn) und anschließend die aktuelle Situation (welchen Stellenwert hat er für den Menschen, wie lebt er, welche Aufgaben erfüllt er).

Die Informationen sind sehr unterschiedlich und interessant. Es ist für mich sehr faszinierend, mal einen Blick über den westeuropäischen Tellerrand zu werfen, wo man Hunde als reine Haustiere hält, maximal als Arbeit bekannt für Schafherden, Drogensuche, Katastrophenschutz oder für die Jagd. So bewachen die Hunde in Middle Island zum Beispiel Kolonien von Pinguinen. Lundehunde auf den Lofoten machen Jagd auf Papageientaucher und sind dabei auf den Klippen so kletterfähig wie Gämsen, haben sogar sechs Zehen! In Neuguinea leben die Hunde ganz selbstverständlich zwischen den Menschen, haben jedoch keine Besitzer, sondern sie sind einfach Teil der Gesellschaft. In Marokko gelten Hunde als Unrein, doch eine Rasse, der Sloughi, gilt als edles Tier und genießt einen hohen Status in der Gesellschaft. Und so erfährt man viele kleine spannende Details teils über bekannte Rassen wie den Bernhardiner, Border Collies oder die Welsh Corgies, aber auch über eher bei uns unbekannte Rassen wie den Phu-Quoc-Hund, den Do Khyi, Koochis, Kangals oder andere.

Im Anschluss an die einzelnen Kapitel findet sich ein Anhang, wo die einzelnen Rassen auf fünf Seiten noch einmal knapp zusammengefasst werden.


FAZIT

Ein wunderschöner Bildband, der weniger als Fachbuch über einzelne Rassen gedacht ist sondern vielmehr ein Gefühl beim Leser wecken soll für das Miteinander von Mensch und Hund in anderen Ländern. Es hebt die besonderen Fähigkeiten einzelner Rassen hervor und vermittelt dadurch einen Eindruck von der Vielfalt des Hundes. Die Bilder fangen sehr lebendig den Charakter der einzelnen Tiere ein und berühren den Leser. Ein Buch, das neben einigen ähnlichen Bildbänden einen kleinen Ehrenplatz in meinem Regal bekommt, damit ich immer wieder darin blättern kann. Volle Punktzahl für ein wirklich gelungenes Werk :-)


SaschaSalamander 17.08.2011, 09.34 | (0/0) Kommentare | PL

Paranormal Activity

paranormalactivity_1.jpgVom Macher das aktuell vielgepriesenen INSIDIOUS ist der Film PARANORMAL ACTIVITIES. Mein Freund als Horrorfan hat ihn mir empfohlen, da er aus der Masse der sonst üblichen Filme herausragt, also haben wir ihn uns gemeinsam angesehen. Und ich muss sagen, doch, mal was anderes.

Micah hat eine Kamera gekauft, denn seit einiger Zeit wird Katie wieder von etwas verfolgt. Es begann, als sie 8 Jahre alt war, seitdem folgt es ihr, und nun beginnt es erneut. Geräusche, kleinere Aktivitäten, ihr Name geflüstert, sie fürchtet sich. Die beiden suchen das Gespräch eines Mediums, dieser verweist sie an einen Spezialisten für Dämonen. Während Katies Angst täglich wächst, scheint es Micah eher als Spiel zu sehen, er provoziert den Dämon und tut so ziemlich alles, wovor das Medium sie beide gewarnt hat. Die Aktivitäten werden heftiger, und als sie den Dämonenspezialisten kontaktieren wollen, ist dieser nicht erreichbar.

PARANORMAL ACTIVITIES ist klar ein Low Budget Film, dessen Kameraführung an Blair Witch erinnert. Natürlich soll auch dieser Film auf realen Begebenheiten basieren. Mal baut Micah die Kamera auf (nachts), meist trägt er sie tagsüber ständig bei sich. Er filmt alles und jeden, was sowohl den Gefilmten als auch dem Zuschauer recht schnell auf die Nerven geht, aber es ist Teil des Filmes und gehört dazu. Ebenso gehört dazu, wie unlogisch und vor allem unqualifiziert Micah reagiert. Spätestens, als er durch die Kamera die untrüglichen Beweise dafür hat, dass etwas geschieht, das mit dem normalen Verstand vorerst nicht zu erklären ist, sollte er den Fachmann anrufen und akzeptieren, dass etwas nicht stimmt. Auch, dass er die Ängste seiner Freundin komplett ignoriert, machte mich während des Filmes ziemlich wütend, sodass ich mir immer wieder die Frage stellte, warum sie ihm nicht schon längst den Laufpass gegeben hat.

Aber wie gesagt, dies ist Teil des Filmes, der Handlung, es stellt den Alltag der beiden dar und ist durch diese Handkamera ziemlich gut gelungen. Der Aufbau ist schleichend, anfangs beginnt es sehr ruhig, es geschieht nicht viel außer einer sich bewegenden Tür. Die Aktivitäten werden heftiger, die Reaktionen der beiden werden immer emotionaler, es kommt zu Konflikten zwischen den beiden bis hin an den Punkt, als es tatsächlich körperlich wird und der Dämon Katie real bedroht, die Spannungskurve ist bis hin zum etwas zu abrupten Ende perfekt aufgebaut. Durch diesen schrittweisen Aufbau gelingt es dem Filmemacher, mit einfachen Möglichkeiten wie dem An- und Ausschalten des Lichts im Flur oder einer schwingenden Deckenlampe Grusel zu erzeugen.

Was mir an diesem Film besonders gut gefällt: es gibt keine billigen (oder teuren aber schon viel zu oft gesehenen) Effekte. Der Horror spielt sich im Kopf des Zuschauers ab, und es braucht weder Dämonenfratzen noch wabernde Schatten. Der Dämon ist nicht sichtbar, zu sehen ist nur seine Aktivität. Auch die Erklärung ist nicht wie in vielen Filmen an den Haaren herbeigezogen sondern real an wissenschaftlichen Erkenntnissen gehalten und daher interessant für diejenigen Zuschauer, die nicht nur Geisterfilmchen sehen wollen, sondern sich auch tiefgründiger mit dem Phänomen paranormaler Aktivitäten befassen.

Was für mich wichtig zu erwähnen ist: Blair Witch ist extrem wacklig, ich konnte ihn nicht komplett ansehen, nicht des Grusels wegen sondern weil mir übel wurde. Dieser Film hier ist im Stil ähnlich, spielt jedoch nur im Haus, hat daher keine wilden Verfolgungsjagden und ist insgesamt ruhiger im Bild.

Wer Schockeffekte möchte und einen brutalen Horrorschocker nach dem anderen ansieht, wird vermutlich enttäuscht sein. Wer dagegen einen realistischen Grusel sucht und Inhalt wichtiger empfindet als die Effekte, dem wird mit PARANORMAL ACTIVITIES ein ungewöhnlicher Film geboten, wie es ihn nur selten zu sehen gibt. Aber vorsicht - wer sich darauf einlässt, der wird eine Art Angst verspüren, wie ihn "normale" Horrorfilme selten erzeugen können!

SaschaSalamander 16.08.2011, 09.25 | (4/4) Kommentare (RSS) | PL

Die Worte der weißen Königin



DIE WORTE DER WEISSEN KÖNIGIN ist das neue Buch von Antonia Michaelis. Sie hat bereits viele Kinder- und Jugendbücher geschrieben, die mich begeisterten durch ihre Sprache und Vielfalt, aber der große Wurf ist ihr vor einiger Zeit mit DER MÄRCHENERZÄHLER gelungen. An diesen Erfolg anknüpfend, hat der Oetinger-Verlag wohl auch das Cover gestaltet. Auch die Idee, das "nackte" Buch ohne Schutzumschlag ebenso zu gestalten, das gleiche Motiv nur ohne den Menschen darauf, wurde übernommen. Es ist irritierend für den Leser, denn viele Elemente deuten darauf hin, dass es eine Fortsetzung des MÄRCHENERZÄHLERS sein könnte. Dennoch ist DIE WORTE DER WEISSEN KÖNIGIN ein komplett eigenes Buch.

INHALT

Seine Mutter hat die Familie verlassen, als Lion drei Jahre alt war, seitdem lebt er allein mit seinem Vater. Er lernt sehr viel von ihm, nicht für die Schule, das kann sein Vater nicht, aber fürs Leben. Doch als sein Vater die Arbeit verliert, beginnt er zu trinken, und anstelle des liebevollen Vaters tritt der "schwarze König", der seinen Sohn misshandelt. Lion möchte gerne frei sein wie die Seeadler, und er vermisst die "weiße Königin", die alte Frau, welche den Kindern Märchen vorlas. Doch die alte Frau ist nicht mehr da, und die Seeadler fliegen ohne ihn. Lion beginnt die Schule zu schwänzen, die Seeadler zu zähmen und sich auf die Suche nach Worten zu machen, wie man sie nur in Büchern findet und durch die er sich mit der "weißen Königin" verbunden fühlt. Als die Misshandlungen durch den Vater zunehmen, flieht er von zu Hause und beschließt, mit den Adlern zu leben und die "weiße Königin" zu finden.


GENRE

Für ein Kinderbuch ist dieses Buch meiner Ansicht nach etwas zu ernst. Während Lindgren in den BRÜDER LÖWENHERZ die Dinge wie den Tod umschreibt, ist Michaelis sehr direkt. Ein Kind wird geschlagen, ausgepeitscht, und es es denkt stellenweise daran, den eigenen Vater zu töten. Und dennoch sind die Worte kindgerecht. Für die Kleinsten ist es nicht passend, doch die Altersgruppe Lions, Kinder um die 10 Jahre, dürften bereits Verständnis für dieses Buch haben, wenn man sie nicht alleine damit lässt und mit ihnen darüber redet.

Durch die poetische Sprache, die zahlreiche Symbolik und die fantastischen Elemente mutet das Buch an wie ein Märchen. In Anlehnung an den Begriff der "Urban Fantasy" möchte ich gerne den Begriff "Urban Fairy Tale" einführen. Ein modernes Märchen, das in der Gegenwart spielt. Und so, wie Märchen grausam sein können, so ist auch dieses Buch auf gewisse Weise grausam und zugleich doch schön. Ein Widerspruch, wie ihn nur Märchen in sich vereinen können.

Das Buch vermischt Märchen und Realität auf faszinierende Weise. Während man in klassischen Märchenbüchern klar weiß, was Realität und Fiktion ist, so sind die Grenzen hier fließend. Kann man einen Seeadler zähmen? Kann ein Kind im Horst eines Seeadlers nächtigen? Auch ist der unsichtbare Freund (hier in Gestalt der jüngeren Schwester, einer Personifikation der nicht gelebten Wut Lions) ein häufiges Thema in realen Geschichten. Doch was, wenn der unsichtbare Freund mit realen Menschen agiert und diese reagieren: vielleicht ist der Freund ja doch real? Oder vielleicht können nur andere Kinder ihn sehen, nicht jedoch die Erwachsenen? Oder vielleicht ist es eine Metapher für das, was eigentlich Lion selbst tut und psychologisch betrachtet von sich abspaltet?

Das Buch richtet sich auch an Erwachsene, denn Kinder werden wohl all die Anspielungen nicht verstehen, können nicht die komplette Tragweite des Buches erfassen. Und ich bin sicher, dass durch die vielen verschiedenen Symbole auch die Erwachsenen das Buch sehr individuell lesen werden, jeder wird etwas anderes darin sehen und die Situationen unterschiedlich deuten. Es gibt unbeantwortete Fragen am Ende, die Antworten finden sich zwischen den Zeilen in einzelnen Umschreibungen. Ich bin sicher, dass das Buch die Gemüter sehr spalten wird. Das gefällt mir, denn es stellt keinen Absolutheitsanspruch, statt dessen regt es zum Nachdenken und Diskutieren an.



GEFÜHL WÄHREND DES LESENS

Dies ist das Einzige, wo ich Parallelen zum MÄRCHENERZÄHLER ziehen möchte. Das Gefühl während des Lesens ist fast das gleiche. Einerseits die wunderbaren Worte, die ein Gefühl von Geborgenheit vermitteln, die klaren Bilder, die im Kopf des Lesers entstehen. Und zugleich der dicke Kloß im Hals, der den Leser zum Weiterlesen zwingt, man möchte den Kloß loswerden, man wünscht sich, dass diese Anspannung sich löst. Und doch ist das Buch zu realistisch, als dass es schön sein könnte. Eine dunkle Melancholie legt sich wie eine Decke über den Leser, nur manchmal wagt er einen Blick in den Himmel, wo er mit Lion und den Adlern durch den Himmel gleiten und diese Freiheit erleben möchte. Oft musste ich das Buch für einige Momente unterbrechen und das wirken lassen, was ich eben gelesen hatte. Ich kann nicht davon lesen, wie ein Vater sein Kind mit einem Holzscheit prügelt und dann einfach weiterlesen, als wäre nichts geschehen. Es braucht eine Pause, um dies zu verdauen. Die kindlichen Gedanken und Worte machen das Geschehen umso tragischer, die Verletzbarkeit des Jungen, seine kindliche Unschuld wirken regelrecht greifbar.

DER MÄRCHENERZÄHLER machte mich betroffen, doch dieses Buch steigert diese Gefühl. Denn Anna und Abel sind Jugendliche, die bereits eine gewisse eigene Entscheidungsfähigkeit und Selbstverantwortung tragen. Lion ist noch ein Kind, und er ist den Erwachsenen ausgeliefert. Sein Versuch sich zu wehren und Freiheit zerreißt dem Leser schier das Herz, vor allem, wenn er getriggert wird und Dinge tut, die ein Kind in diesem Alter niemals tun sollte, weil es Dinge weiß, die ein Kind nicht wissen sollte ...


LITERARISCHE BEZÜGE

Wie auch schon in einigen ihrer anderen Bücher bezieht sich Antonia Michaelis auf andere bekannte Bücher. In diesem Fall sind es Kipling (Rikki Tikki Tavi), Exupery (der kleine Prinz) und Astrid Lindgren (Klingt meine Linde, die Brüder Löwenherz). Geschickt hat sie die einzelnen Elemente in die Handlung gebracht und den Inhalten eine neue Bedeutung verliehen. Ich mag diese Bezüge und finde sie sehr treffend, sie passen in das Buch, stellenweise scheint es fast, als wären diese Geschichten Inspiration gewesen und als hätte sie das Märchen von Lion (der nicht zufällig den Namen des Löwen trägt) um diese Elemente herumgewebt.

Auch fällt es auf, wie sie Sprache und Metaphorik sowie die Bezüge zu den anderen Geschichten miteinander verbindet. So ist Olin, Lions unsichtbare Freundin / Schwester namentlich ein Anagram von Lions Namen. Und hat eine klangliche Ähnlichkeit zu dem Mädchen Malin, was ich hier jedoch ohne Spoiler nicht näher erklären kann aber sich dem Leser nach der Lektüre erschließen wird.


THEMEN

Das Buch beinhaltet sehr viele elementare Themen. Einige davon werden klar benannt, andere sind zwischen den Zeilen zu finden. So geht es nicht nur um Kindsmisshandlung, sondern auch um Wut, Hass, Angst. Aber auch Vergebung, Familie, Freiheit, Selbstbewusstsein, Stärke und Mut. Es stellt sich oft die Frage, was wichtig ist im Leben. Lion ist arm, er trägt zerfetzte Kleidung, geht auf eine Förderschule und beneidet andere Kinder um das, was sie haben: MP3-Player, neue Kleidung, ferngesteuerte Autos. Er ist wütend darüber, wie wenig sie ihre Frisur schätzen und wiesehr sie sich gehenlassen. Und doch ist er froh über das, was er hat und sie niemals haben werden: die Freiheit und das Wissen der Seeadler. Es ist ein Buch der großen Gefühle, gekleidet in kleine Worte mit großer Bedeutung. Lion sagt von sich selbst, dass ihm die Worte fehlen, erst durch die weiße Königin lernte er neue Worte kennen, die seinen Horizont erweiterten, doch als die Königin ging, suchte er nach neuen Worten, aber das Buch bleibt mit ihm stehen. Die Worte sind einfach. Die Inhalte sind groß ...


FAZIT

Das Buch hat mich sehr bewegt, und unter den aktuellen Büchern ist es auf jeden Fall eine absolute Empfehlung für Jung und Alt. Kinder ab 12 Jahre sollten es allerdings nicht alleine lesen sondern einen Erwachsenen an ihrer Seite haben. Ältere Leser sollten sich bewusst sein, dass all die ernsten Themen nicht in Absolutheit behandelt werden können und vieles unbeantwortet bleiben muss. Die Worte klingen sanft und still, doch ihre Wirkung ist gewaltig. Ein Buch, für das man Zeit braucht und ein offenes Herz. 

SaschaSalamander 08.08.2011, 09.01 | (0/0) Kommentare | PL

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