SaschaSalamander

Ausgewählter Beitrag

Geschlechtliche, sexuelle und reproduktive Selbstbestimmung - Genauere Betrachtungen

In der >Rezension< schreibe ich allgemein über das Buch GESCHLECHTLICHE, SEXUELLE UND REPRODUKTIVE SELBSTBESTIMMUNG. Es wäre, wie dort bereits gesagt, zuviel, auf jeden einzelnen Artikel einzugehen. Trotzdem möchte ich das hier tun. Nicht bezogen auf alle Artikel, aber doch einige, einfach weil Schreiben für mich auch bedeutet, Dinge zu verarbeiten, und weil ich es bei wichtigen Themen wie diesen hier gerne teilen möchte. Ich denke, dadurch werden vielleicht auch andere darauf aufmerksam, und das ist ja nie verkehrt ;-)


DER SELBSTBESTIMMUNG VON TRANS* ZUM DURCHBRUCH VERHELFEN

Hier geht es vor allem darum, dass Trans*Identität noch immer als psychische Störung pathologisiert wird und eine Änderung der Geschlechtsidentität und des Namens nur über ein Gutachten möglich ist. Man muss bedenken, dass bis 1990 auch Homosexualität noch als psychische Krankheit galt, was heute kaum noch vorstellbar ist, und für Trans*Identität muss einfach noch sehr viel Lobbyarbeit geleistet werden. Das eigene Empfinden ist anders als Blutdruck nicht messbar, anders als ein gebrochenes Bein nicht sichbar, sondern es handelt sich um Weltanschauung, Einstellung und Identitätsgefühl. Es gibt keinen Test, der dies belegen könnte, da es etwas höchst Individuelles ist, wie also soll eine Diagnose gestellt werden? Es wird gefordert, Trans*Identität aus dem Bereich der psychischen Störungen zu entfernen. Entgegen der Meinung, dass dies notwendig sei, um Leistungen der Krankenkasse für Operationen und Therapie zu erhalten, wird hier gefordert, es ebenso wie Schwangerschaft oder Geburt als Gesundheitsprozess zu sehen, der nicht auf einer Krankheit beruht und dennoch der Unterstützung durch Staat und Krankenkasse bedarf. 


TRANS* UND SEXUELL?!

Transidentität, sexuelle Zufriedenheit und Sexualberatung sind die Themen dieses Kapitels. Es stellt ein Problem dar, wenn die Genitalien nicht stimmig sind. Hierbei können Betroffene Hilfe benötigen. Es wird gefragt, wie eine Sexualberatung aussehen muss, und worin sich sexuelle Zufriedenheit zeigt. Sehr schön werden die Schwierigkeiten aufgezeigt (simple One-Night-Stands etwa sind nicht möglich, da zuviel kommuniziert und erklärt werden muss vorab), aber auch die Vorteile (Kommunikation führt zu mehr Zufriedenheit, und wer wenn nicht Trans*Idente müssen ihre Sexualität vorab kommunizieren). Auch das Thema der Benennnung der Geschlechtsteile ist angerissen, da reguläre Begrifflichkeiten hier nicht mehr gelten. Es wird außerdem thematisiert, dass das Empfinden stets an den sozialen Kontext gebunden ist und unklar ist, ob das Körperempfinden die Trans*Identität bedingt oder umgekehrt. 


ÄRZTL ERFAHRUNGEN U EMPFEHLUNGEN MIT INTER U TRANS

Zu Beginn des Kapitels wird klar gesagt, dass Trans* und Inter* zwei Diskurse sind, die keinesfalls vermengt werden dürfen. Dennoch gibt es gewisse Schnittmengen. Das Thema Inter wird hier sehr medizinisch angegangen. Besonders spannend fand ich, dass Inter*Sexualität aufgeschlüsselt wird in einzelne Diagnosen und daraus resultierende möglichen Gesundheitsprobleme, und gerade für Laien ist es erstaunlich zu sehen, was für ein breites Feld das ist. 


INTERSEX U SELBSTBESTIMMUNG

Anschaulich wird textlich wie auch anhand von Bildern erklärt, wie sich Embryonen entwickeln. Bis zur 7. Woche sind alle Menschen Zwitter, bis sich danach die Entwicklung abzeichnet. Hier wird sehr schön erklärt, wie sie aus den selben Grundlagen einmal die weiblichen, ein andermal die männlichen Genitalien bilden (einige Aha-Effekte, wenn man das zum ersten Mal sieht). Genaue wissenschaftliche Zahlen können nicht genannt werden, da laut Aussage der Autoren die Statistiken je nach Intention der Studio nach oben oder unten geschönt werden. Es wird daraufhin sehr intensiv auf das Thema der Genitalverstümmelung eingegangen und welche Spätfolgen psychischer und phyischer Art dies für die Opfer hat. Lebenslange Hormongabe, Leiden, Behinderungen, aber auch das Leid, belogen und betrogen worden zu sein, keine eigene Entscheidungsfreiheit gehabt zu haben. Besonders tragisch wird dies, wenn einem Kind ein Geschlecht "anoperiert" wird und es darunter leidet, da es sich dem "wegoperierten" Geschlecht zugehörig fühlt. Dieses Kapitel empfand ich als extrem aufwühlend, die Autoren schreiben sehr flüssig aber auch bewegend, und wenn man das liest, dann kann man nur wütend werden auf das, was die Medizin sich heute anmaßt!


WAS IST ES DENN

Hier gibt es einzelne Vorschläge, wie das Thema geschlechtliche Vielfalt in Schulen oder innerhalb der Sozialpädagogischen Arbeit integriert werden kann. 


ASEXUALITÄT - UNSICHTBARES SICHTBAR MACHEN

"Asexuell", also quasi keine sexuelle Lust empfinden. Habe davon gehört, es aber nie als Problem erachtet. Dann hat jemand eben keine Lust, ist doch seine Privatsache. Dachte ich. Aber auch dieses Kapitel war recht erhellend. Dass es als sexuelle Störung klassifiziert wird, die der Heilung und Therapie bedarf? Echt jetzt? Will man Menschen etwa verpflichten, dass sie gefälligst Lust haben müssen auf Sex? Es wird sehr schön auf historische und gegenwärtige Einstellungen zu diesem Thema eingegangen, und ich konnte stellenweise kaum glauben, was ich da las. Die Überschrift "Unsichtbares sichtbar machen" trifft es sehr gut, weil dieses Kapitel deutlich macht, welchen Problemen die Betroffenen ausgesetzt sein können, etwa bei der Partnerwahl (da "asexuell" nicht zwangsläufig "aromantisch" bedeuten muss). Es werden sehr viele Facetten von Asexualität und Co beleuchtet, von denen ich bis dato noch nicht gehört hatte. Dieses Kapitel hat meinen Horizont wieder gewaltig erweitert, und nun kann ich auch mit Begriffen wie demisexuell, grausexuell, lithoromantisch, allosexuell, queerplatonisch und weiteren etwas anfangen. 


GEFÄNGNIS UND SEXUALITÄT

Während Trans* und Inter vor allem unter fehlender geschlechtlicher Selbstbestimmung leiden und Asexuelle gerne frei entscheiden möchten, keinen Sex haben wollen zu dürfen, leiden Inhaftierte Menschen vor allem darunter, dass ihre sexuelle Selbstbestimmung komplett reglementiert ist. Der Autor schildert hier erst einmal einleitend zu den anderen Kapiteln die allgemeine Situation: rechtliche Grundlage, Sexualität stets tabuisiert außer im Rahmen der Therapie oder Deliktbearbeitung, Bestrafung der Angehörigen, Trennung in männlichen / weiblichen Vollzug. Verschwiegene Themen in dieser Lebenswelt sind vor allem sexuelle Gewalt (wie in Siegburg), Prostitution (zB als Zahlungsmittel), fehlender Schutz vor sexuell übertragbaren Krankheiten, fehlende Liebesbeziehung, Vergewaltigung (durch Mitgefangene oder Mitarbeiter). 


SEXUALITÄT, GEWALT U HOMOPHOBIE

Dieses Kapitel beleuchtet die Folgen der Tabuisierung. Während es bei Frauen eher ein offenes Geheimnis ist, dass zweckmäßig auch gleichgeschlechtliche Bindungen eingegangen werden, ist dies bei Männern verpönt. Durch die Tabuisierung werden die Probleme umso mehr verstärkt: da keiner der heterosexuellen Männer als schwul gelten möchte (extrem geächtet im Gefängnis), würde zB kaum einer wagen, beim Sozialdienst oder Medizinischen Dienst Kondome anzufordern, die Ansteckungsgefahr steigt. Auch wird darauf hingewiesen, Mitarbeiter zu sensibilisieren, wenn Inhaftierte feminisiert werden, da dies Zeichen sexueller Gewalt gegen diese sein kann, die hinter verschlossenen Türen stattfindet. Vor allem auf den >Foltermord in Siegburg< wird Bezug genommen, bei dem ein Mitgefangener so lange sexuell gequält und misshandelt wurde, bis er sich auf Befehl der Peiniger hin selbst das Leben nahm. Wofür ich dem Autor SEHR dankbar bin: er verweist unter anderem darauf, dass das Haftsetting von außen betrachtet als sehr lüstern dargestellt wird in den Medien (TV-Serien, Bücher, Erotikgeschichten usw), dies mit der Realität jedoch in keinster Weise gleichzusetzen ist. DANKE, DANKE, DANKE! Endlich spricht es jemand aus, und ich kann nicht sagen, wie oft ich mich hierüber schon geärgert habe, da es eine schreckliche Realität in ein viel zu angenehmes Licht rückt und ein hochsensibles Thema bagatellisiert  oder gar karikiert. 


LIEBESBEDÜRFNIS UND SEXUALITÄT IN HAFT

Treffend gesagt: das am meisten überwachte Feld ist das Feld mit der höchsten Dunkelziffer. Was für ein Paradox! So überwacht und reglementiert der Haftalltag sein mag, weiß man kaum etwas über die wahren Zahlen. Auch geht der Autor darauf ein, dass durch die erzwungene Unterdrückung der Libido Aggressionsstau entstehen kann, Gewaltausbrüche eine mögliche Folge hiervon. Er sieht dies problematisch für die Beziehungen, welche nach der Haft wieder aufgenommen werden, sieht darin eine mögliche Rückfallgefährdung nach der Entlassung. Er beschreibt, wie Menschenrecht und berufliche Situation entgegenstehen (etwa wenn Mitarbeiter und Schutzbefohlener sich ineinander verlieben), wie aus dieser Situation aber auch Missbrauch entstehen kann (erpressbare Mitarbeiter, ausgenutzte Gefangene). Es wird offen geschrieben über Masturbation und Ersatzbefriedigung und das Ausweichen in haftbedingte Homosexualität. Eine interessante Frage wird aufgegriffen: ist sexuelle Orientierung in der Pubertät geprägt und fix, oder kann sie auch verändert werden? Es gibt Hinweise, dass Betroffene auch nach der Haft ihre Orientierung beibehalten, doch Studien hierzu waren bisher noch nicht möglich. Auch sexuelle Devianz wird hier anhand von Studien thematisiert, und die Ergebnisse sind teils recht überraschend. 


SELBSTBESTIMMUNG U D RECHT AUF ABTREIBUNG

Hier geht es nun um die reproduktive Selbstbestimmung. Darum, ob Menschen sich fortpflanzen wollen oder nicht. Das Kapitel beginnt mit einer kurzen Geschichte des Abtreibungsrechts und geht dann näher auf die heutige Situation ein, sowohl juristisch wie auch Umfragen in der Bevölkerung. 


BEHINDERUNG UND REPRODUKTIVE SELBSTBESTIMMUNG

Gleich zu Beginn wird die Fallgeschichte einer jungen behinderten Frau geschildert, welche durch die Einrichtung und die Mitarbeiter in eine Richtung gedrängt werden soll, ohne dass ihre eigenen Bedürfnisse hierbei berücksichtigt werden. Daraufhin wird das Thema definiert und in seinen rechtlichen Grundlagen erklärt und anschließend erörtert, wie gesellschaftlich, familiär und professionell darauf eingegangen wird und welche Möglichkeiten der Unterstützung es für Betroffene gibt. 


GEWINN DURCH VIELFALT

Hier geht es vor allem darum, wie die Gesellschaft das heteronormative Bild der Beziehung pflegt und auf welche Weise dies bestimmte Personen ausgrenzt. Nach Lektüre des Buches ist klar, dass es weit mehr als zwei Geschlechter gibt, und der Wunsch nach Zuneigung und auch Reproduktion besteht nicht nur bei männlich / weiblich. Der Artikel geht näher ein zB auf Patchworkfamilien (Elternteil mit Kind, davor heterosexuelle Bindung und nun queer) oder wenn ein Elternteil sich als trans* definiert. Insemination, Adoption, Pflegschaft und Leihmutterschaft werden näher beleuchtet. 

SaschaSalamander 27.05.2016, 09.41

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