SaschaSalamander

Ausgewählter Beitrag

Die mörderische Poesie des Monsieur Ducasse

KLAPPENTEXT:

Paris 1924. Die junge Agnelette Magloire ist auf der Suche nach ihrer Schwester Isabelle, die Jahre zuvor spurlos aus dem kleinen Dorf ihrer Kindheit verschwand. Orientierungslos und eingeschüchtert von der Metropole landet Agnelette in den Kreisen der Surrealismus-Bewegung und verliebt sich in den Dichter Louis Aragon.

Zur gleichen Zeit erschüttert eine unheimliche Mordserie Paris. Während Agnelette Gefallen an einem Leben als Künstler-Muse findet, entdeckt sie jedoch erschreckende Parallelen zwischen den Morden und den Umtrieben der Surrealisten. Welche Rolle spielt ihre Schwester bei den Ereignissen? Und was hat es mit dem verbotenen Buch „Die Gesänge des Maldoror“ auf sich, dass Agnelettes neue Freunde so abgöttisch verehren?

Plötzlich ist nicht nur ihr eigenes Leben in Gefahr. Agnelette muss auch feststellen, dass es in ihrer Vergangenheit ein düsteres Geheimnis gibt, das sie nun einzuholen droht. Was passiert, wenn die Realität sich im Traumhaften und Mystischen verliert? Wenn die Wirklichkeit vom Absurden und Irrealen verschluckt wird?




AUTORIN

Was könnte ich über Britta Habekost erzählen, wenn ich mich kurzfassen möchte? Das ist ganz schön schwer, weil ich ihre bisher von ihr gelesenen Bücher alle sehr schätze und diese mich persönlich berührt haben. Jedes auf andere Weise an unterschiedlichen Punkten meiner Seele. Ich müsste zu weit ausholen. Also übergebe ich ihr das Wort und verweise hier lediglich auf ihre >offizielle Website< ;-)

Und ich verweise auf andere Rezensionen, die zu manchen ihrer Titel hier bereits zu finden sind:
>ELWENFELS<
>DAS STERBEN DER BILDER<
>TODESTRIEB<
>NYLONS 01<
>NYLONS 02<


CHARAKTERE

In diesem Roman verweben sich reale und fiktive Personen. Wer mit dem Surrealismus vertraut ist, wird hier also auf André Breton, Louis Aragon, Philippe Soupault und einige andere treffen. Kurz treten auch Dalis Muse Gala und der Maler Max Ernst auf die Bühne. Natürlich gestatte die Autorin sich gewisse künstlerische Freiheiten ;-)

Auch, wenn die eigentliche Protagonistin die Kunst, die Sprache, der Surrealismus ist - den menschlichen Figuren widmet die Autorin dennoch sehr viel liebevolle Aufmerksamkeit. Wichtigste Akteurin ist die junge Agnelette Magloire, "Lämmchen" genannt. Ebenfalls eine wichtige Rolle haben ihre Schwester, der gemeinsame Liebhaber der beiden, ein Pariser Polizist und ein Arzt. Sie alle werden hervorragend in klaren Worten skizziert. Und, ganz besonders: sie erleben eine greifbare und glaubhafte Entwicklung. Sie ändern ihr Verhalten, ihre Einstellung, werden geprägt von ihren Erfahrungen. Es ist ein Genuss, vor allem die junge Frau auf ihrem Weg zu begleiten und ihr zuzusehen, wie sie vom schüchternen Mädchen zur selbstbewussten Dame reift.

Besonders gelungen finde ich die Darstellung der Künstler in ihren schrulligen Eigenheiten. Zwischen Genie und Wahnsinn liegt nur ein schmaler Grat, und auf diesem wird hier fleißig getanzt. Die Personen wirbeln durcheinander, übertreffen sich gegenseitig mit ihren kreativen Ideen und abseitigen Gedanken (hier werden gelegentlich originale Zitate aus deren Werken eingestreut). Der Leser bekommt nicht nur einen Einblick in die Zeit und den Gedanken des Surrealismus, sondern er taucht tief hinab in die Traumwelt der Charaktere, in der vieles unklar bleibt und sich mehr Fragen auftun als beantworten. Das Buch macht also vor allem auch neugierig auf die realen Hintergründe der Zeit, der Kunst, der Personen.


SCHREIBSTIL

"Sie war sechszehn. Ein Körper, der sich jeden Tag aufs Neue zu verändern schien, eine Schönheit so unberechenbar wie der Vogelflug." (S. 18)

Die Autorin gehört zu denen, die es vermögen mit Worten zu malen. Vergleiche, Metaphern, altmodisch anmutende Worte, eine gehobenere Sprache, sie reizt alle Möglichkeiten aus. Dabei wirkt der Roman aber weder altmodisch noch aus der Zeit gefallen sondern elegant und anmutig. Das Buch liest sich dadurch etwas langsamer als die meisten gegenwärtigen Unterhaltungs-Romane, in denen man nur so über die Seiten fliegt. Ich habe es genossen, Seite für Seite bewusst langsam zu lesen, mich auf die Worte einzulassen und dabei tief in die Handlung einzutauchen.

Sie übernimmt die Rolle der allwissenden Erzählerin, welche die Gedanken, Gefühle und Träume aller Charaktere kennt. Sie tritt dem Leser immer wieder bewusst als Erzählerin gegenüber: "Wir wollen jedoch den Grund nicht verschweigen", "Erwähnt werden muss nun", "Es ist nicht unerheblich zu erwähnen", "dieser Teil der Geschichte ist schnell erzählt". Wenn sie auf diese Weise den Leser anspricht, ist sie sehr direkt. Sobald es jedoch für die Handlung wichtig ist, den Leser noch ein wenig zappeln zu lassen (ein Krimi soll schließlich spannend bleiben), übergibt sie das Wort an andere: "Die Bäckerin sagt", "der Inhaber des Ladens habe gesehen", spielt mit Andeutungen, Auslassungen, vagen Vermutungen.

Einige Male erschafft sie eigene Wortschöpfungen, um Figuren zu beschreiben oder Agnelettes Gedanken wiederzugeben. Außerdem gelingt es ihr - hier erinnere ich mich sehr an DAS STERBEN DER BILDER - den krassen Widerspruch aus Grauen (Krieg, Verletzung, Tod, Elend, Giftgas, Hirnmasse) und Ästhetik (erwachende Lust Lichtkleckse durch die Äste eines Apfelbaumes, filigrane Gebilde) gekonnt in Worten gegenüberzustellen ohne das Hässliche zu beschönigen, doch auch ohne sich in Brutalität und Widerlichkeiten zu ergehen.


ERZÄHLWEISE / AUFBAU

Die Bedrohnung baut sich bereits zu Beginn des Buches auf. Es beginnt mit einem Abschied, einer Andeutung. Es folgt eine kurze unbeschwerte Zeit, der Krieg reißt alles auseinander, die Menschen stehen vor den Trümmern ihrer heilen Welt. Der Leser begreift, dass der Inhalt des Buches schonungslos sein wird. Die Spannung steigert sich, und bereits das Eintreffen Agnelettes in Paris deutet auf kommendes Unheil, der Täter ist von Beginn an präsent.

Aber, was ihr geschickt gelingt: sie führt den Leser gekonnt in die Irre. Man glaubt den Täter zu kennen, die Hinweise sind sehr versteckt und man glaubt clever zu sein, das Spiel durchschaut zu haben, so unwahrscheinlich es klingen mag - nur um dann zu erfahren, dass man sich die ganze Zeit täuschen ließ und völlig im Dunkeln tappte. Ab dem Moment, als dies klar wird, zieht die Spannung erneut an - alles ist noch viel schrecklicher, als man sich dies anfangs ausgemalt hatte, alles erscheint in einem neuen Licht. Dann folgt ein langer, vielschichtiger Abschluss voller Spannung, Dramatik und jeder Menge Emotion. Zuletzt - Nachgesang, Ausklang, das Leben geht weiter, was wird nun aus den Personen. Der Leser bekommt Zeit, sich von den liebgewonnenen Figuren zu verabschieden und sie nun als erwachsene, eigenständige Personen ziehen zu lassen ...



EIGENE GEDANKEN

Das Buch hat mir nicht nur gefallen, sondern vor allem auch sehr viel Stoff zum Nachdenken und Recherchieren geboten. Außerdem hat es mir die Grundlage für einige Gespräche mit Freunden und Bekannten ermöglicht. Bis dato hatte ich mich für den Surrealismus nicht interessiert, Epochen und Formen der Kunst sind mir eher egal, ich genieße was mir gefällt.

Umso erstaunter war ich, vieles wiederzuentdecken, das mich schon seit Kindheit an begleitet und für das ich nun einen Namen fand. Ich entdeckte Parallelen zu meinen Lieblingsautoren, fand mich wieder bei von mir favorisierten Malern und Künstlern, erfuhr mehr über die Hintergründe dessen, wofür ich bisher keine Worte hatte und worin ich keinen Zusammenhang sah bisher (weil eben bisher nur "gefällt mir eben"). So, wie auch Agnelette immer tiefer in die Welt der Surrealisten vordrang, recherchierte auch ich immer mehr. Stöberte auf verschiedenen Seiten, las mir Biographien durch, hinterfragte verschiedene Werke und Künstler zu ihrem Hintergrund.

Ich bin sicher, dass es in dem Buch vieles zu entdecken gibt, das mir verschlossen blieb. Man muss sich wohl sehr gut mit dem Thema auskennen, um alle Anspielungen zu verstehen. Doch: auch ohne die Personen zu kennen, ohne um bestimmte Ereignisse zu wissen, man begreift die Handlung und kann der Geschichte folgen. Wer einfach nur einen spannenden Roman genießen möchte, kann dies tun. Wer gerne mehr erfahren möchte, der wird von selbst immer wieder Lust darauf bekommen, etwas nachzuschlagen und das Geschehen besser zu begreifen.

Immer wieder musste ich pausieren, um die Worte und Inhalte auf mich wirken zu lassen. Das Buch wäre mir zu schade gewesen, es einfach nebenbei zu konsumieren. Daher dauerte es fast zwei Wochen, bis ich es gelesen hatte, doch umso mehr konnte ich es genießen und in den Gesprächen, die ich mit Freunden dazwischen führte, neue Seiten der Handlung entdecken, sodass die Geschichte noch lange in mir arbeiten wird.


FAZIT

DIE MÖRDERISCHE POESIE DES MONSIEUR DUCASSE ist ein außergewöhnliches Buch, das den Leser tief in die Welt der Surrealisten führt. Es ist sowohl sprachlich als auch inhaltlich zu vielschichtig, um es in nur einem knappen Satz zu beschreiben. Deswegen: nehmt Euch Zeit, lasst Euch auf den Inhalt ein, genießt die Sprache und entdeckt Euch selbst ...

SaschaSalamander 08.05.2019, 09.55

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